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Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland

Beschluß vom 15. Januar 1988

Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden im Blick auf die 50. Wiederkehr des Jahrestages der Synagogenbrände

Obwohl dieses Dokument bereits vor fünf Jahren erschienen ist, verdient es, heute wieder veröffentlicht zu werden. Der christliche Wille, die eigene dunkle, judenfeindliche Vergangenheit ohne Verschleierung im Bewußtsein zu behalten, ist die sicherste Möglichkeit, antisemitische Tendenzen im Keim zu ersticken. Dies gilt für den einzelnen wie für Kirchen und Gruppen. Red.

Vor zehn Jahren hat die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland an jene Untaten erinnert, die „unter dem bedrückenden Schweigen der Kirchen oder mit Billigung oder gar Beteiligung der Christen am 9. November 1938 begangen wurden“.

1980 hat die Landessynode „die geschichtliche Notwendigkeit“ gesehen, „ein neues Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk zu gewinnen“, und in ihrem Synodalbeschluß vom 11. Januar 1980 Umrisse dieses neuen Verhältnisses der Christen zu den Juden bezeichnet.

50 Jahre nach dem Pogrom von 1938 fragt die Landessynode, welche Ergebnisse die Bemühungen, in Umkehr und Erneuerung ein neues Verhältnis der Christen zu den Juden einzuleiten, gebracht haben und wie wir uns heute zu dieser Geschichte verhalten. Die Landessynode bittet die Gemeinden in der rheinischen Kirche, den 50. Jahrestag des Synagogenbrandes zum Anlaß zu nehmen, wiederum über die Erneuerung unseres Verhältnisses zum jüdischen Volk nachzudenken und in der Praxis unseres Gemeindelebens Umkehr zu verwirklichen. Sie bittet die Lehrenden an den Hochschulen und in kirchlichen Einrichtungen, das notwendige neue Verhältnis der Christen zum jüdischen Volk in Forschung und Lehre einzubeziehen. Sie bittet alle, die in Predigt, Seelsorge und Unterricht tätig sind, darauf zu achten, daß Jungen und Alten „eine neue Sicht des Geheimnisses Israels und des Verhältnisses von Christen und Juden aus der Heiligen Schrift“ vermittelt wird (Beschluß vom 12.01.1978). Sie bittet die anderen christlichen Kirchen in Deutschland, sich um den Prozeß der Umkehr und Erneuerung nach Kräften zu bemühen. Sie ermutigt alle Christen, für die Versöhnung zwischen Christen und Juden zu beten und öffentlich einzutreten und, in ständiger Wachsamkeit, bereit zu sein, allen antisemitischen Tendenzen bei uns selbst zu wehren. Sie bittet sie, dabei folgende Zusammenhänge neu zu bedenken:

1. Brennende Synagogen

In der Nacht vorn 9. auf den 10. November 1938 brannten im deutschen Gebiet die Synagogen. Das Abbrennen der Tora-Rollen traf die jüdische Religion im Kern. Damit setzte eine neue Phase in der Vorgeschichte des „Holocaust“ ein. Bereits 1933 begann der Boykott jüdischer Geschäfte; 1935 traten die Nürnberger Rassengesetze in Kraft, die die Juden aus der deutschen Gesellschaft ausgrenzten und den Versuch einer deutsch-jüdischen Symbiose zerschlugen. 1938 legte der Staat im Gefolge des November-Pogroms seine Hand auf das Eigentum der Juden in Deutschland. Ein evangelischer Landesbischof begrüßte dieses Vorgegehen, weil damit „die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiete im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt“ worden sei. 1941 wurden die Juden durch den Befehl zum Tragen des Gelben Sterns gebrandmarkt. Das alles geschah in voller Öffentlichkeit. Im Januar 1942 wurden auf der „Wannsee-Konferenz“ die organisatorischen Voraussetzungen für die „Endlösung der Judenfrage“, das heißt, für die physische Ausrottung des jüdischen Volkes im deutschen Machtbereich, beschlossen. Uns geht es heute nicht darum, die damals für diese Untaten Verantwortlichen noch einmal anzuklagen. Es geht uns darum, daß die Nachgeborenen das überkommene Erbe prüfen: Haben wir — 50 Jahre nach dem Synagogenbrand — die antijüdischen Traditionen verlassen, in die das furchtbare Ereignis gehört? Es war die Tradition der religiösen Diffamierung, als sei der Gott Israels nicht unser Gott und als sei das jüdische Volk nicht mehr Gottes Volk. Es war die Tradition der gesellschaftlichen Ächtung, die die Juden ins Getto verbannte und ihnen mühsam errungene Bürgerrechte wieder zu entziehen bereit war. Religiöse Diffamierung, gesellschaftliche Diskriminierung, verschärft durch den seit dem 19. Jahrhundert einwirkenden Rassismus, schufen die Voraussetzungen für die Judenvernichtung in der Mitte unseres Jahrhunderts.

2. Antisemitismus

Die Geschichte der christlichen Abwendung vom jüdischen Volk, die diesem die Rolle des Sündenbocks zuwies, reicht bis in die frühen Phasen des Christentums zurück. In diese Geschichte gehört auch der „treue Rat“ des Reformators Martin Luther, „daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke“. Im 19. Jahrhundert bildeten sich die religiösen, ökonomischen und psychosozialen Voraussetzungen des modernen Antisemitismus heraus. Der Theologe Friedrich Schleiermacher dachte mit der Kraft der Einseitigkeit vom Christusglauben her. Er sprach dem Judentum die bleibende Erwählung ab: „Das Christentum steht zwar in einem besonderen geschichtlichen Zusammenhange mit dem Judentum; was aber sein geschichtliches Dasein und seine Abzwekkung betrifft, so verhält es sich zu Judentum und Heidentum gleich.“ Der Philosoph Gottlieb Fichte wollte den Juden zwar Menschenrechte zugestehen. „Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und ihnen andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee ist.“ Der Historiker Heinrich von Treitschke prägte die Parole: „Die Juden sind unser Unglück!“ Der Hofprediger Adolf Stoecker rühmte sich, derjenige gewesen zu sein, „der die Judenfrage aus dem literarischen Gebiet in die politische Praxis der Volksversammlungen eingeführt hat.“ Solche Denker und Politiker kannten die kriminelle Potenz noch nicht, die in unserem Jahrhundert einen modernen Staat den Massenmord am jüdischen Volk planen und durchführen ließ. Aber nach der Zäsur des Holocaust läßt sich die abschüssige Bahn von der religiösen Diffamierung, der gesellschaftlichen Ächtung, dem Rassismus zur physischen Vernichtung nicht länger leugnen. Denker lieferten Tätern Gründe zur Tat. Die Gründe lähmten die Zuschauer, den Tätern zu widerstehen.

3. Unsere Identität

Diese Lähmung entstand auch aus dem Bedürfnis nach deutscher Selbstbestätigung. Wir haben unsere nationale Identität unter anderem auf Kosten der Juden gewonnen, als ob „der Deutsche erst dadurch zum wahren Deutschen würde, daß er Antisemit ist“ ; und wir haben bei unserer Suche nach christlicher Identität „das verborgene Band der Einheit zwischen Kirche und Israel nicht mehr gesehen; wir haben nicht begriffen, daß, wer dieses Band zerschneidet, der zerstört die Existenz der Kirche in solcher Tiefe, daß die Zerstörung irreparabel ist“ (Hans Joachim Iwand, 1953). Christen erlagen der Versuchung, ihre Identität als Deutsche und Christen durch die Ausgrenzung der Juden und „alles Jüdischen“ aus Volk und Kirche zu suchen. Dem hatte die Kirche keine geistliche Erkenntnis entgegenzustellen. So entwickelte sich naiver Judenhaß zu einer antisemitischen Weltanschauung und schließlich zu einer gesetzlich verankerten Judenverfolgung, die auf die Auslöschung des jüdischen Volkes zielte.

4. Unsere Schuld

Wir sind schuldig geworden, als wir Auschwitz zuließen. Wir machen uns erneut schuldig, wenn wir immer noch nicht die abschüssige Bahn von der religiösen Diffamierung, der gesellschaftlichen Ächtung und dem Rassismus zur physischen Vernichtung der Juden wahrhaben wollen. Wir haben zwar den Tod der Opfer beklagt, aber wir haben kaum noch gefragt, welche falsche Lehre von Gott und welches falsche Verhalten gegenüber Menschen wir weiterhin überliefern und ausüben. Einige in der Kirche haben nach dem Holocaust zu Umkehr und Erneuerung gerufen. Auch in unserer rheinischen Kirche haben wir uns vorgenommen, das Verhältnis von Christen und Juden zu verändern. Es ist uns bis heute nur unzureichend gelungen. Die Chance des Neuanfangs nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurde nicht ergriffen. Seit 50 Jahren bewegen wir uns zwischen Verdrängen und Vergessen, Selbstmitleid und Selbstrechtfertigung, Entschuldigung und Schuldverrechnung auf der einen Seite, Scham und Trauer auf der anderen. Wir müssen uns heute fragen: Gibt es ein Zuspät?

5. Unsere Vergangenheit

Wir neigen dazu, den Holocaust als ein Ereignis anzusehen, das nur das jüdische Volk betrifft. Wir übersehen dabei, daß er von uns ausging und daß es deswegen um uns selbst geht. Unsere Vergangenheit gehört zu uns. „Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren“ (Richard von Weizsäcker). Die Trauer um die Toten darf nicht aufhören. Zugleich müssen wir uns fragen, was mit uns geschehen ist, als unter Beteiligung und unter den Augen von Christen die Synagogen brannten, das Menschen- und gar das Lebensrecht der Juden in einem millionenfachen Mord mißachtet wurde. Als wir meinten, unsere deutsche und christliche Identität auf Kosten der Juden beschaffen zu können, haben wir sie in einer Tiefe beschädigt, die wir uns erst noch klarzumachen haben.

6. Gegenwart und Zukunft

So handelt es sich nach 50 Jahren nicht darum, daß die Nachgeborenen die damals Verantwortlichen noch einmal zur Rechenschaft ziehen und aburteilen. Aber wir müssen nach Prüfung des überkommenen Erbes mit den unheilvollen Traditionen brechen. Ohne Bitterkeit wollen wir den Zusammenhang der Generationen ernst nehmen: „Unsere Väter haben gesündigt und leben nicht mehr, wir aber müssen ihre Schuld tragen“ (Klagelieder 5,7). Dabei wird geschehen:

— daß wir den Opfern des Holocaust, statt sie mitleidlos zu vergessen, einen Ort in unserem Gedächtnis einräumen und gemeinsam mit denen, die damit schon begonnen haben, ihrer an bestimmten Orten zu festen Zeiten, wenn immer möglich mit Namen, gedenken;

— daß wir lernen, auch die Schuldanteile unserer nationalen Identität wahrzunehmen und in unsere Verantwortung zu übernehmen, anstatt in eine vermeintliche „Normalität“ zu flüchten und damit die Vergangenheit von uns abzutrennen;

— daß wir das jüdische Volk als Gottes Augapfel (Sacharja 2,12) begreifen und die Achtung vor diesem Volk und seiner Erwählung als wesentlichen Bestandteil des christlichen Glaubens begreifen;

— daß wir den Staat Israel als Zufluchtsort der verfolgten Juden achten und Solidarität mit den jüdischen Gemeinden in unserer Nachbarschaft suchen;

— daß wir uns verpflichten, keiner Gruppe in unserer Gesellschaft gegenüber religiöse Diffamierung, gesellschaftliche Ächtung und rassistisches Gebaren zuzulassen;

— daß wir neue Bindungen zum Judentum gewinnen, daß wir Gottes Vergebung erflehen (Ps 130) und daß wir umkehren.

Nach 50 Jahren gilt, was Hans Joachim Iwand 20 Jahre nach dem 9. November 1938 sagte: „Die Vergangenheit der Vernichtung des Judentums bleibt unsere Vergangenheit. In ihr spiegelt sich ab, was wir sind. Sind wir ungewandelt, steht auch sie fest und wird anklagend ihr Gesicht auf uns richten, setzt aber bei uns Umkehr und Wiedergeburt ein, freilich etwas, was wir nicht machen, was wir aber doch erflehen können, dann bewegt sich auch die scheinbar starre Vergangenheit, und der Geist, der uns wendet, weht auch über das Feld der Totengebeine (Hes 37).“


Jahrgang 1 — 1993/94 Seiten 46-50



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