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Karl E. Grözinger (Hg.)

Sprache und Identität im Judentum.

Jüdische Kultur, Bd. 4. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1998. 265 Seiten.

Der vorliegende Sammelband dokumentiert eine interdisziplinäre Ring­vorlesung der Potsdamer Jüdischen Studien. Die Autoren der einzelnen Beiträge stehen vor dem Dilemma, daß die „verwirrende Situation des Judentums zwischen den Sprachen mit einer dennoch anhaltenden jüdischen Identität“ (10) kaum aufzulösen ist: Für die Juden in der Diaspora konnten Griechisch, Arabisch, Ladino oder Judezmo, Jiddisch und „schließlich fast alle Sprachen der Welt“ (9) eine größere Bedeutung erlangen als das Hebräische, auch wenn die „heilige Sprache“ der Bibel im Judentum nie völlig in Vergessenheit geriet. Studien zur „jüdischen Identität“ müssen daher unweigerlich zu widersprüchlichen, letztlich auch unbefriedigenden Ergebnissen führen, wenn sie von der Sprache als zentraler identitätsstiftender Kraft ausgehen. Die Aufsatzsammlung verliert dadurch nicht ihren Wert, hinterläßt aber insgesamt einen recht ambivalenten Eindruck, zumal der Identitätsbegriff als solcher sowie die mit einer Mehr- oder Fremdsprachigkeit verbundenen Schwierigkeiten in den Beiträgen nur selten problematisiert werden. Der Bezug zu einer spezifisch „jüdischen Identität“, von der beispielsweise Freud ausgeht (Josef Ludin, 24), bleibt jedoch vage.

An den Erzählungen der jüdischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, die als Patientin Freuds unter dem Namen Anna O. bekannt wurde, demonstriert Inge Stephan „die traumatische Erfahrung einer Nicht-Identität, der Sprach- und Ortlosigkeit einer jüdischen Minderheit in einer [...] feindlich gesonnenen Umgebung“ (42). Karl Grözinger (75-90) fragt nach der Bedeutung des Hebräischen für das Judentum in der Diaspora. Obwohl Maimonides und andere jüdische Autoren der Auffassung waren, daß „auch das Hebräische [...] ein auf menschliche Konvention zurückgehendes Kommunikationsmittel“ sei (86), habe die hebräische Sprache über Jahrhunderte hinweg sowohl für den einzelnen als auch für die ganze Gemeinschaft identitätsstiftend gewirkt und daher auch auf den jüdischen Gebrauch anderer Sprachen großen Einfluß ausgeübt.

Der ausgezeichnete Beitrag von Erika Timm über „Die Bibelübersetzungssprache als Faktor der Auseinanderentwicklung des jiddischen und des deutschen Wortschatzes“ (91-109) ist bereits in den achtziger Jahren in der Reihe Vestigia Bibliae veröffentlicht worden. Anhand zahlreicher Beispiele macht Timm deutlich, daß die Wirkung des hebräischen Bibeltextes auf die „Sonderentwicklung des Jiddischen gegenüber dem Deutschen“ (94) nicht zu unterschätzen ist. Die Tendenz vieler jiddischsprachiger Bibelausgaben des 15. und 16. Jh. „zu lexemkonstanter und sogar wurzelkonstanter Übersetzung“ des Hebräischen habe sich für das Jiddische als äußerst kreativ erwiesen (105). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Gerda Haßler in ihrem Überblick sephardischer Sprachkontakte und -entwicklung vor und nach der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 (111-133).

Christoph Schulte analysiert die 1792/93 veröffentlichte Autobiographie des jüdischen Aufklärers Salomon Maimon (135-149), „für die nichtjüdischen Leser das erste Buch, das in deutscher Sprache das Lebensschicksal eines Juden, von ihm selbst erzählt, bis in alle Einzelheiten vor ihnen ausbreitet[e]“ (140). Maimons Schrift fand jedoch nur wenig Anerkennung. Die von Manfred Voigts (152-172) und Elvira Grözinger (173-198) vorgestellten Antisemiten des 19. und frühen 20. Jh. leugneten ohnehin jede Möglichkeit einer deutsch-jüdischen Identitätsfindung, die sie als „Mimikry“ (152) oder „Mauscheln“ (181) diffamierten. Die Wiederbelebung des Hebräischen durch den Zionismus vergleicht Ruth Berger mit der Entstehung der türkischen Nationalsprache nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches (199-229), und Joachim Schlör schildert die „Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache im jüdischen Palästina“ sowie die Diskriminierung und Integration der sogenannten „Jeckes“ in Israel (231-253). Ein ausführliches Personenregister schließt den umfangreichen Band ab.

Elias H. Füllenbach OP, Düsseldorf


Jahrgang 12/2005 Seite 296


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