Der Titel der deutschen Übersetzung der in London (SCM Press) 1994 erschienenen englischen Originalausgabe (The Christan Effect on Jewish Life) ist die Popularisierung eines Satzes im Sefer Chasidim (12. Jh.): „Vielerorts entsprechen die Bräuche der Juden den Gewohnheiten der Nichtjuden.“ Viele jüdische Bräuche, Lehren, Gottesdienst– und Feiertagsgestaltungen sind Teil-Übernahmen, Antithesen und Reaktionen auf das Christentum. Hilton untersucht sie eingehend und gestaltet daraus eine neue jüisch-christliche Forschungsgeschichte. „Ein genaueres Verständnis der Beziehungsgeschichte zwischen beiden Religionen ist für den jüdisch-christlichen Dialog unverzichtbar“ (16). Es hat eine sich über 2000 Jahre erstreckende „symbiotische Beziehung zwischen den beiden Schwesternreligionen“ gegeben (18).
Zunächst werden jüdische und christliche Feste nach ihren Differenzen und Abhängigkeiten untersucht. Hilton beginnt mit den alten Parallelen „Weihnachten und Chanukka“ (29–39). Inspirierend wirkte neben der Geburtsgeschichte Jesu auch die in den Makkabäerbüchern überlieferte Verfolgungs– und Rettungsgeschichte des jüdischen Volkes und seiner Religion. Rabbiner Meir Kahane äußerte 1981 seinen Unmut über den Einfluß von Weihnachten auf Chanukka. Dieses jüdische Fest werde bereits entweiht, „wenn es von nichtorthodoxen Juden gefeiert wird“ (32). – Dann werden „Karneval/Fastnacht und Purim“ behandelt (39–45). „Im mittelalterlichen Europa war es den Juden verboten, an den Karnevalszügen teilzunehmen“ (41). Im Zusammenhang mit der Esthergeschichte kam es aber an Purim im späten Mittelalter auch zu jüdischen Karnevalsfeiern (42–44).
Bei der Gegenüberstellung „Abendmahl und Pesach“ (45–64) weist Hilton auf heutige Seder-Feiern unter Christen hin. Er warnt vor oberflächlichen Adaptionen: „Christen, die durch den Seder etwas über die jüdischen Wurzeln des Christentums erfahren wollen, sind auf völlig falscher Fährte ... Der echte Dialog verlangt, daß wir zu verstehen suchen, wie jede Gemeinschaft mit der Tradition ihrer Texte lebt. Er verlangt nicht, daß wir die Texte eines andern Glaubens in unsere eigene Tradition einpassen (51). – Es keine Feste gibt, „die enger zusammengehören“ als Pfingsten und Schawuot. „Beide feiern den Bund mit Gott. Bei den Juden geht es um Gottes Gabe der Tora an Israel, bei den Christen um die Offenbarung des Heiligen Geistes an die Apostel“ (65).
Nach der Gegenüberstellung der Feste folgen Einzelthemen. Wichtig sind die Messiasauffassungen und die Auferstehung der Toten. Die differenten Meinungen über den Messias sind das “klassische Unterscheidungsmerkmal“ zwischen Christentum und Judentum (82f). In der Messiasfrage hat der Verfasser – wie bei den anderen Themen – eine gute Forschungsübersicht. Er schildert die Geschichte der messianischen Bewegungen im Frühjudentum, im Neuen Testament, in den Schriften der Kirchenvät er und im rabbinischen Schrifttum (84–105). Sich auf S. Reif beziehend zitiert Hilton eine frühee Form der 15. Berakha des Achtzehngebetes: „Erbarme dich, Herr unser Gott ... über Israel, Dein Volk und über Deine Stadt Jerusalem, über Zion, die Wohnung Deiner Herrlichkeit, Deinen Tempel ... und über das Königtum des Hauses David, des Gesalbten Deiner Gerechtigkeit“ (89 f.). Die Stadt Jerusalem, die Anwesenheit des Bundesgottes sowie die durch David symbolisierte Königsherrschaft Gottes waren die Hauptpunkte jüdischen Denkens zur Zeit des beginnenden Christentums.
Hilton erklärt auch mehrere Detail-Gegensätze. Christen glauben, daß Jesus die Vergebung der Sünden gebracht hat. Nach jüdischer Auffassung kommt der Messias jedoch erst, nachdem Israel sich von seinen Sünden abgewendet haben wird (95). Vermutlich wirkten sich die Deutungen des Propheten Elia in den Evangelien auf rabbinische Auffassungen über den Vorläufer des Messias aus. Hilton vertritt auch die These, daß die Trennung zwischen Judentum und (Juden-)Christentum zur Zeit des Bar-Kochba-Aufstandes stattfand. Die Christen konnten die gegen Rom gerichteten Erwartungen der messianisch motivierten Aufständischen nicht mehr teilen (108).
Die (etwas unglücklich wiedergegebene) uralte Bestätigungsformel: „Gepriesen ... Name, Herrlichkeit seiner Herrschaft für immer und ewig“ (130) deute den Glauben an die Auferstehung an. Die Worte „für immer und ewig“ seien evtl. als Reaktion auf Christen, Sadduzäer und andere Gruppen im 1./2. Jh. eingesetzt worden (131). Hilton hat hier nicht recht: Diese Formel stammt aus der (frühen) Zeit des Tempelbestandes.
Für Auferstehungszusammenhänge an anderen Stellen aber hat Hilton ein gutes Gespür. So zitiert er die älteste Form der Lobsprüche, die vor Beginn der Toralesung zu sagen sind (208 f.). Laut Soferim 13,6 lautet sie: „Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns die Tora vom Himmel her gibst als ewiges Leben vom Himmel her.“
Hier schwingt eine alte Motivationshoffnung für die Auferstehung der Toten mit: Das ewige Leben wird bei der Toralesung in uns auch für das Leben nach dem Tod eingepflanzt (vgl. auch Joh 17,2). Hilton beschreibt auch die verbesserte Erklärung des Moses Maimonides über die Auferstehung der Toten (227 f.). Dieser mittelalterliche Hauptzeuge der jüdischen Tradition legt in seinem Werk maamar techijat ha-metim „die kuriose Vorstellung dar, daß diejenigen, die begraben wurden, nach der Ankunft des Messias leiblich wieder zum Leben erweckt würden, um später erneut zu sterben. Ihre Seelen würden in einem rein geistigen Zustand ewig leben“ (228).
Diese „eigenartige Lehre“ finde sich ebenfalls in älteren jüdischen Quellen. Auch die ntl. Erzählung über die Auferstehung Jesu in körperlicher Form und seine anschließende ‘Himmelfahrt’ entspreche diesen Vorstellungen. – Unter dem Haupttitel „Blick in die Geschichte“ (159–283) werden viele Strömungen im Judentum berührt, die aus indirektem Kontakt mit dem Christentum entstanden sind. Eine veränderte jüdisch-christliche Beziehungs-Geschichtsschreibung wird deshalb künftig notwendig werden. Hilton hat viele Wege dafür geebnet. Mit Recht aber warnt er vor einem dialogsüchtigen Überrennen jüdischer Gebetstraditionen.
Jahrgang 8 /2001 Heft 1 Seite 63