Schon der Titel des Buches klingt wie eine Provokation. Unsere eigenen Gefühle des Grauens werden von einem vorausgeschickten Zitat ausgesprochen, das einem Flugblatt der „Weißen Rose“ (1942) entnommen ist: „Jedes Wort, das aus Hitlers Munde kommt, ist Lüge. Wenn er Frieden sagt, meint er Krieg, und wenn er in frevelhaftester Weise den Namen des Allmächtigen nennt, meint er die Macht des Bösen, den gefallenen Engel, den Satan […].“ Unmissverständlich klärt der Autor im Vorwort die Distanz, die christliche Grundlage, von der aus das Buch geschrieben ist. Das ist nötig. Aber der Grazer Theologieprofessor hält eine Beschäftigung mit der theologischen Basis von Hitlers politischem Projekt für zu wichtig, um sich durch Abscheu davon abhalten zu lassen. Denn ‚Theologie’ sei schließlich „kein geschützter Begriff“. Es sei nicht notwendig, Hitlers Theologie zu widerlegen, „aber es ist notwendig, sich mit ihr zu beschäftigen“. Denn diese rassistische Theologie hatte weit reichende, mörderische Folgen, mit denen wir uns heute immer noch befassen müssen. „Hitler hat tiefere Spuren in unserem Jahrhundert hinterlassen als jeder andere“ (Ian Kershaw).
Auch Rüdiger Safranski hat das, wovon sich Hitler wahnhaft in seiner Vernichtungspolitik leiten ließ, eine „politische Theologie“ genannt. In seinem Buch „Das Böse oder Das Drama der Freiheit“ (1997) spricht er von der Besonderheit, die Hitler so viel Macht verlieh: Üblicherweise trenne der Wahn einen Menschen von seiner Umgebung, „das Ungeheure des Falles Hitler liegt darin, dass er die Einsamkeit des Wahns überwand, indem er seinen Wahn vergesellschaftete“. Safranski bezeichnet Hitler auch als „die finsterste Variante eines Religionsstifters“. Was das im Einzelnen in den überlieferten Äußerungen Hitlers – vom Buch „Mein Kampf“ bis zur Geheimrede – bedeutete, davon handelt in fast unerträglicher Genauigkeit das Werk Rainer Buchers.
Bucher untersucht in drei Begriffen – „Abgrenzungen“, „Strukturen“ und „Konsequenzen“ –, warum die Theologie eines Laien so große weltpolitische Folgen haben konnte. Ein klares Vorwort und ein sehr persönliches Nachwort rahmen das schwierige Unternehmen ein. In seinem Nachwort benennt der Autor seine eigene Erkenntnis – als Katholik – aus der Untersuchung, dass es nötig sei: „die Menschenrechte als politischen Namen Gottes“ zu identifizieren. Und, so der letzte Satz Buchers: „Es ist nicht gleichgültig, welche Theologie man treibt, es ist nicht gleichgültig, an welchen Gott man glaubt.“ Denn Hitlers Gott war alles andere als ein christlicher Gott. Und doch: Adolf Hitlers wichtigste Erkenntnis könnte man zusammenfassen mit den Worten: Vom Christentum lernen, heißt siegen lernen. Er bewunderte die Kompromisslosigkeit, die dem Christentum „diese unerhörte Kraft“ gegeben habe, von einer kleinen Sekte zur Weltreligion zu werden. „Der einzelne mag heute schmerzlich feststellen, dass in die viel freiere antike Welt mit dem Erscheinen des Christentums erst der geistige Terror gekommen ist“, stellt er fest. Aber Hitler wollte nicht etwa nur eine bewährte Methode übernehmen, um sie für sein heidnisches Projekt zu benutzen. Die „völkischen“ Religionsströmungen verachtete er. Es erschien ihm „unsagbar töricht, einen Wotanskult wiedererstehen zu lassen“. Und er war bis zu seinem Tod Mitglied der katholischen Kirche und zahlte Kirchensteuer.
Anfangs beansprucht Hitler sogar für den Nationalsozialismus, „das Christentum der Tat“ zu sein. Und doch ist das Christentum für Hitler „das Tollste, das je ein Menschenhirn in seinem Wahn hervorgebracht hat“. Den christlichen Glauben sieht er nur als Episode: „Wir wissen, dass dieses Christentum nur eine ganz kurze Epoche der Menschheit umfasst.“ Seine eigene anti-universalistische Weltanschauung erscheint ihm nicht nur zeitgemäß und „wissenschaftlich“, sondern er glaubt auch, dass nur sie allein handlungsfähig mache. „Universalisten, Idealisten und Utopisten“, so nennt Hitler seine Feinde selbst noch in seinem „Politischen Testament“ im Februar 1945. Der Kern des Christentums war ihm jedoch völlig unzugänglich, da ihm ja auch die jüdischen Wurzeln dieser Religion fremd waren – oder zumindest hinderlich für seinen verbrecherischen Wahn.
Bucher zitiert den Genozidforscher Gunnar Heinsohn, der so weit ging, den Holocaust als einen Versuch anzusehen, mit dem Judentum auch das für die jüdische Religion konstitutive universale Tötungsverbot zu beseitigen. Der Judenmord, so Heinsohn, hatte „vor allem ein Ziel: Er sollte das Recht auf Töten wiederherstellen.“ – Rainer Bucher ist der Meinung, dass Heinsohn hier eine rein ethische Perspektive einnimmt und die theologische Dimension, die der Holocaust in Hitlers Denken hatte, nicht genug beachtet. Hitler fühlte sich durch „seinen Gott“, der allein dem „deutschen Volk“ noch übergeordnet war und die Vernichtungspolitik legitimierte, zu einem rassistischen Zerstörungswerk berufen, das er als Korrektur der Schöpfung betrachtete. „Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein […]. So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“ (1925 in „Mein Kampf“). Dieses brutale Zitat hat Rainer Bucher seiner Untersuchung vorangestellt. Die Vernichtung der europäischen Juden und der Erwerb von Lebensraum für das „deutsche Volk“ hielt Hitler für eine ihm persönlich übertragene Aufgabe.
Bisher hat Buchers Werk eine völlig unzureichende Rezeption erfahren, obwohl es einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der (Selbst-)Legitimierung Hitlers leistet, die auch durch eine Niederlage nicht erschüttert werden konnte. Alles war ihm „Bestätigung seiner Mission“, etwa als er sich nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 von der „Vorsehung“ erhalten glaubte. Die Lektüre dieses Buches fordert eben nicht gerade wenig von uns. Bucher hat nicht nur die erschütternde Studie einer wahnhaften Gottesbeziehung geschrieben, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf religiösen Terror der Gegenwart. Denn, so Alfred North Whitehead, Religion kann auch „ die letzte Zuflucht menschlicher Grausamkeit“ sein.
Jahrgang 17 / 2011 Heft 4 Seite 301