Walter L. Rothschild
Der Buchtitel stammt aus einem Kinderlied von Naomi Shemer. Rabbiner Rothschild deutet damit an, dass er das Judentum nicht in idealisierter Form, sondern mit seinen Brüchen und Widersprüchen, mit seiner Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit und nicht nur durch die nostalgische Brille sehen will. Mit seinem enzyklopädischen Werk wendet sich der Rabbiner an Juden, die mehr von ihrem Glauben wissen wollen, speziell aber an Menschen, die zum (liberalen) Judentum übertreten wollen. Im Christentum würde dem ein Katechismus entsprechen mit dem charakteristischen Unterschied, dass Rothschilds Buch keine Dogmatik enthält, sondern Liturgik und Bibelexegese, und nicht nur Wissen vermitteln, sondern zu eigenem Denken und kritischem Nachfragen anregen will. Woher nimmt ein so viel beschäftigter Rabbiner Zeit und Energie, um ein so umfangreiches Buch zu veröffentlichen?
Man kann das Buch gar nicht in einem Zug lesen, es soll den Leser ein ganzes Synagogenjahr lang begleiten. Fast die Hälfte des Buches ist eine Einführung in den Gottesdienst in der Synagoge/in der Familie (25–81) und in den jüdischen Kalender/die Feiertage (82–189). Während im christlichen Katechismus erläutert wird, was zu glauben und ethisch zu tun ist, wird im Buch von Rothschild ausführlich dargestellt, wie etwas zu begehen und zu feiern ist, wie dadurch Glaube erfahren und ausgedrückt wird und welche ethischen Konsequenzen das alles haben kann.
Bei der Lektüre tauchen bei einem christlichen Leser alle die Bilder auf, die er aus Filmen und Bildbänden zum Judentum, aus Religionsbüchern für den evang. und kath. Religionsunterricht und aus Katalogen für Judaika kennt. Leider verzichtet das Buch auf Abbildungen. Warum ausgerechnet nur bei Sukkot ein historischer Holzschnitt aus dem 17. Jh. (125) bzw. zwei Radierungen aus dem 18. Jh. (124 und 127) als Illustrationen zum Thema aufgenommen worden sind, wird nicht erläutert. Im dritten Kapitel führt Rothschild in die Bibel und in die mündliche Lehre, die Traditionen im Judentum – ein weites, nur historisch nachzuvollziehendes Feld – ein (190–237), stellt fundamentalistische und historisch-kritische Bibelinterpretation gegenüber und erläutert die Sicht der Bibel im liberalen Judentum.
Für einen christlichen Leser ist die von Rothschild durchgängig praktizierte historisch-kritische Interpretation von Bibeltexten erfrischend, auch wenn sie sich von christlichen Interpretationen charakteristisch durch die Konzentration auf die Tora unterscheidet, während christliche Exegeten den Schwerpunkt auf die historischen Akzentuierungen der jeweiligen Gottesvorstellungen in der Bibel legen.
Das IV. Kapitel erklärt die häusliche und persönliche Befolgung der Gebote im jüdischen Alltag: Kaschrut, Mesusa, Tefillin, Kopfbedeckung, Tallit und Zizit (238–274). Dabei erfährt man, dass im liberalen Judentum auch Frauen während bestimmter ritueller Gelegenheiten – speziell in der Synagoge – einen Gebetsschal tragen (274). In Kapitel V. über den jüdischen Lebenszyklus und die entsprechenden Rituale von der Geburt bis zum Tod (275–328) sind vor allem die jüdischen Positionen zum Status des Embryos (276–280), zu Abtreibung (280), zur Bewertung des genetischen Materials des Fötus (280 f.) und zur Leihmutterschaft (282, mit Berufung auf Dtn 25,5–6 und Gen 30,3.9) eine Herausforderung für christliche Leser.
Bei dem Abschnitt über Hochzeit und Ehe geht Rothschild auch auf die Fragen von gleichgeschlechtlichen und interreligiösen Ehen ein (305 f.). Dabei fällt ein für das Temperament des Rabbiners typischer Satz mit einem für ihn charakteristischen Achselzucken: „Es gibt immer irgendwelche ‚Rabbiner‘, die – gegen Bezahlung – fast jede Zeremonie durchführen, aber die großen jüdischen Organisationen in Europa (und viele auch in Amerika) werden solche öffentlichen jüdischen Zeremonien nicht dulden“ (306); – gemeint sind gleichgeschlechtliche und interreligiöse Hochzeiten –, auch ein liberaler Rabbiner wie Rothschild tut das nicht.
Es folgen Überlegungen, wie die ethischen Gebote der Tora und der jüdischen Tradition in den heute veränderten Lebensverhältnissen praktiziert werden können (329–336). Ein Abschnitt beschäftigt sich mit dem weltweiten Antisemitismus (337–340), mit Messias und Messianismus aus liberaljüdischer Perspektive (341–344), mit der geschichtlichen Entwicklung des liberalen Judentums (345–354) und in diesem Zusammenhang auch mit einer klaren Verhältnisbestimmung zu den christlichen Kirchen (350 f.). Ein kleines Kapitel versucht eine Annäherung an Holocaust/Schoa (355–359), ein größeres fasst Stichworte zu Israel und seiner Geschichte zusammen (360–370) und geht auch auf die Frage nach der Berechtigung von politischer Kritik am heutigen Israel ein (367 f.).
Abschließend folgt ein Kapitel zum Thema Übertritt zum Judentum, auch mit Warnungen vor diesem Schritt (371–395), mit Empfehlungen von Literatur für die Vorbereitung (395 f.) und zum Kauf von Judaika für die Hausliturgie (397). Nach einer Übersicht über die 54 Wochenabschnitte beim Synagogengottesdienst (398–400) gibt es Übungen und Testfragen (401–416) und ein Glossar (417–427). Ein Stichwortverzeichnis wäre hilfreich gewesen, aber das Inhaltsverzeichnis (5–10) ist ausführlich genug.
„Der Honig und der Stachel“ ist ein Buch, das einen ein ganzes Leben lang begleiten kann und an keiner Stelle überholt sein wird.
Jahrgang 18 / 2011 Heft 1 Seite 59