Mit dieser umfassenden Interpretation von Rosenzweigs Hauptwerk liegt ein Buch vor, das einerseits die bisherige Forschung zur Sache zusammenfasst, und andererseits Position in der Frage bezieht, welche Aktualität diesem „Geschenk, das der deutsche Geist seiner jüdischen Enklave verdankt“ (11, Motto), im gegenwärtigen Diskurs zukommt. Zu den bewundernswerten Stärken dieser Untersuchung gehört vor allem die gründliche philosophiegeschichtliche Einordnung von Rosenzweigs Kritik der „Philosophie des All“ in die historischen und systematischen Zusammenhänge im Denken Hegels und Schellings, von Rosenzweigs Begriff der Erfahrung in eine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk des Neukantianers Cohen, von seiner „Philosophie der Offenbarung“ in eine Auseinandersetzung wieder mit Schelling (und auch Hegel), aber auch mit Buber und einer ganzen Wolke von rabbinischen und theologischen Zeugen der Bibelinterpretation. Auch die Diskurskontexte mit den Freunden Hans und Rudolf Ehrenberg, Victor von Weizsäcker und Eugen Rosenstock-Huessy sind im Blick.
Vor allem in den philosophischen Fragen der Grundlegung und des systematischen Zusammenhangs der Gedanken wird die inzwischen recht umfängliche Literatur keineswegs nur eklektisch herangezogen, sondern sie ist durchgearbeitet worden, um in der Interpretation dieses alles andere als einfachen Buches voranzukommen. So sticht Schindlers Arbeit unter den neueren Untersuchungen als ein highlight hervor, ist doch der „Stern der Erlösung“ durchaus als ein Werk der (Religions-)Philosophie zu begreifen, das sich zwar auf weite Strecken mit der christlichen Theologie auseinandersetzt, die Kenntnis von deren Geschichte und Gehalten stets voraussetzend, und ebenso intensiv die jüdische Tradition des Kommentierens von Bibel und Talmud, von mündlicher und schriftlicher Tora fortführend, insgesamt aber ein Werk der Philosophie bleibt.
Das Thema der Geschichte zieht sich wie ein roter Faden durch das Rosenzweigsche Hauptwerk, von dessen Anfang bis Ende die Voraussetzungen der Hegelschen Geistphilosophie innerlich umgekehrt werden, um deren „Allzeitlichkeit“ (46 ff.) so zu transformieren, dass das Andere der Zeit als eine andere Zeit begriffen werden kann, für die die Tradition den Namen Ewigkeit kennt. Doch bei Rosenzweig geht die „Ewigkeit als Zeit, die das Andere ihrer selbst ist“, so „in die Zeit ein“, „dass diese zur Zeit der Ewigkeit in Form des ewigen Lebens wird“ (54, vgl. 341, 385). Weil die Zeit in einer Struktur der Zeitigung „selbst geschieht“ (68 ff.), um unter Voraussetzung eines „immerwährenden“ dunklen Grundes in der dreifachen Gestalt der Elemente der Erfahrung Gott, Welt und Mensch, zu einer bestimmten individuell geprägten Lebenszeit zu werden, die sich in ihrer jeweiligen Weltzeit verorten muss, kann auch die Geschichte als „Tat des Täters“ (72 ff.) begriffen werden.
In Rosenzweigs „Standpunktphilosophie“ der Zeiterfahrung ist das „individuum ineffabile triumphans“ der Dreh- und Angelpunkt. Doch während die Geschichte in Rosenzweigs Philosophie der Erfahrung von Zeit somit alle „Göttlichkeit“ verliert, die das Denken Hegels ihr verliehen hatte (so lautete die kritische These des frühen Rosenzweig [73]), kennt der Autor des „Stern“ seinerseits eine „ewige Überwelt“, die man in der theologischen Terminologie der Tradition auch „Heilszeit“ nennen könnte.
Diese dritte Dimension der Erfahrung von Zeit über das duale Wechselverhältnis von individueller Lebens- und geschichtlicher Weltzeit hinaus erschließt sich bei Rosenzweig aus einer Beschreibung der Liturgien in Judenund Christentum, genauer: aus einer Phänomenologie des synagogalen und des kirchlichen Jahreskreises. Der spekulative Gedanke von Gottes Ewigkeit, herausgebrochen aus den Strukturen der Hegelschen Geistphilosophie (hier wäre er als „absoluter Geist“ zu denken gewesen) und eingepflanzt als ein neuer Trieb in die altneuen Felder der Interpretation biblischer, rabbinischer und theologischer Traditionen, wächst und gedeiht allerdings nicht in der Abstraktion des Gedankens allein, sondern bedarf der tatsächlichen Sozialität der Menschen in historisch gewordenen Ritualen und Symbolen, die in diesem Rahmen nicht mehr nur Ich, Du und Es sagen, sondern auch Wir und Ihr.
In dieser Positionalität der Rosenzweigschen Theorie liegt ihre eigene Geschichtlichkeit, ihre Verwurzelung in der Zeit um 1920, nach dem Antisemitismusstreit Cohens mit Treitschke, nach dem Ersten Weltkrieg, zu Beginn der Weimarer Republik, in der der Außenminister Walther Rathenau seiner jüdischen Abstammung wegen ermordet wurde (77), und vor der Zeit des Nationalsozialismus, vor der Schoa, vor der Gründung des Staates Israel. Im Rückblick haben sich die Bedingungen radikal geändert, unter denen das Prinzip Rosenzweigschen Philosophierens verwirklicht werden kann, dass nämlich die tatsächliche Erfahrung einer Zeit unter den Voraussetzungen der unhintergehbaren Individualität des Denkenden mit den Gehalten der philosophischen und der positiv-religiösen Traditionen zu vermitteln ist.
Heute stellt sich für die Interpretation Rosenzweigs die Frage, ob das dialogische Prinzip, auf das er (mit und über Buber hinaus) aufbaut, an die liturgischen Traditionen von Juden- und Christentum gebunden bleibt, oder ob – aller viel beschworenen „Wiederkehr der Religion“ und des Religiösen zum Trotz – die alten Liturgien nicht ihre Zeit gehabt haben.
Wenn man die Dinge so sehen möchte (und in den westlichen Gesellschaften wird man für diesen Standpunkt genügend Anhaltspunkte finden, wenngleich die Lage sich schillernder darstellt, sobald man über Mitteleuropa hinaus in die USA oder nach Israel blickt), wird man in der Weiterentwicklung eines elementaren Rosenzweigschen Motivs bei Emmanuel Lévinas das Prinzip der Verantwortung im Angesicht des anderen als einen auch nach der Schoa zu vertretenden Ursprung der Ethik ernst nehmen wollen. Auch stellt sich die Frage, ob es in einer Gegenwart, die sich mit Utopien schwer tut, nicht sinnvoll sein kann, auf Cohen zurückzugehen, bei dem die Frage nach der Gestaltung der zwischenmenschlichen Verhältnisse stärker auf eine noch ausstehende gesellschaftliche Gerechtigkeit zugespitzt ist als im „Stern“, dessen Verfasser mit seiner Aufmerksamkeit auf die alten Rituale, Symbole und Liturgien der beiden biblischen Religionen Juden- und Christentum auch allen Ambivalenzen eines nach Ritualen geordneten Lebens ins Haus seines Denkens Einlass gewährte (25, 96, 341 f., 385), um diese allerdings – so wird man ergänzen müssen – in der Struktur des Gebets zu verwinden.
Schindler stellt diese Fragen und scheint (aus einer mit Michael Löwy an Walter Benjamin geschärften Perspektive) eher für Cohen als für Rosenzweig zu optieren. Doch ganz so einfach stellen sich die Verhältnisse nicht dar, ist doch der in glänzender Weise von ihr herausgearbeitete Begriff einer Ewigkeit, der in die Zeit so eingeht, „dass diese zur Zeit der Ewigkeit in Form des ewigen Lebens wird“ (s. o.), zu seiner Erschließung an das Phänomen und an die Erfahrung des liturgischen Geschehens am Jom Kippur gebunden. Ja, man kann sagen: Es brauchte Rosenzweigs Synagogenbesuch vor dem geplanten Übertritt zum Christentum nicht nur, um den denkwürdigen Satz schreiben zu können „ich bleibe also Jude“, sondern auch, um seinen von dem Hegels unterschiedenen Begriff der Ewigkeit ausarbeiten zu können. Denn hierzu ist der Bezug auf ein „Sein“ erforderlich, wie Schindler mit Bezug auf Rosenzweigs Anschluss an Schelling schreibt (63), und dieses Sein ist im Sozialen aufzufinden, das auch außerhalb der Religion, in der Gesellschaft überhaupt, durch Rituale geschaffen und erhalten wird, innerhalb der Religion aber im Kultischen seinen Platz hat. Dass allerdings im Kultischen über die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen dieser spezifischen, hier zu gewinnenden Erfahrungen, noch nicht entschieden ist (und – recht verstanden – auch gar nicht entschieden werden soll, wenn man denn die in der europäischen Geschichte schließlich erreichte Unterscheidung von Politik und Religion so ernst nimmt, wie sie in der Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus genommen werden muss), bleibt eine Einsicht, die, beginnend mit den Propheten, die Geschichte des Juden- und des Christentums begleitet. Es mag sein, dass ein unterschiedliches Verständnis des Prophetischen auch zu den tiefgreifenden Motiven gehört, die Rosenzweigs – heute viel kritisiertes – Bild des Islam mitgeprägt haben.
Hans Martin Dober, Tuttlingen
Jahrgang 18 / 2011 Heft 2 Seite 148