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Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.),

Der Ort des Terrors

Bd. 1: Die Organisation des Terrors, 2005, 394 Seiten
Bd. 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, 2005, 607 Seiten
Bd. 3: Sachsenhausen, Buchenwald, 2006, 660 Seiten
Bd. 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, 2006, 644 Seiten
Bd. 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, 2007, 591 Seiten
Bd. 6: Stutthof, Groß-Rosen, Natzweiler, 2007, 840 Seiten
Bd. 7: Niederhagen/Wewelsburg, Lublin-Majdanek, Arbeitsdorf, Herzogenbusch (Vught), Bergen-Belsen, Mittelbau-Dora, 2008, 360 Seiten
Bd. 8: Riga, Warschau, Vaivara, Kaunas, Plaszów, Kulmhof/Chelmno, Belzec, Sobibór, Treblinka, 2008, 464 Seiten
Bd. 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeitslager, 2009, 656 Seiten

Als die Häftlinge nach der Befreiung aus den KZs in ihre Heimat zurückkehrten und ihre Erlebnisse veröffentlichten, wählten sie oft das Erzählmuster des Reiseberichts in eine fremde exotische Welt, eine grauenvolle Strafkolonie mit perversem Reglement, absurder Logik, irreführendem Neusprech. David Rousset nannte diese moralische Antipode „Univers concentrationnaire“ (1946), Robert Antelme beschrieb eine „Welt, die sich wild und grausam gegen die Lebenden richtete und dem Tod ruhig und gleichgültig gegenüberstand“ (L’espèce humaine, 1949), sogar der trockene Eugen Kogon verglich das KZ in seinem SS-Staat (1946) mit dem Inferno Dantes. Diese Assoziation kam Tätern wie Opfern ständig in den Sinn. Der ehemalige Kommandant von Sobibór und Treblinka, Franz Stangl, kommentiert im Gespräch mit Gitta Sereny seine Ankunft in Treblinka: „Dantes Inferno war Wirklichkeit geworden“ (TB, 181). Der Chronist des Sonderkommandos von Auschwitz, Salmen Gradowski, benannte seine Flaschenpost von der „Todesinsel“ frei nach Josef Conrads Bestseller „In Harz fun Gehenem“.

Der ehemalige Sek (Zwangsarbeiter) Alexander Solschenizyn hat für das „sonderbare Land GULAG“ die Metapher des Archipels gefunden „das die Geographie in Inseln zerrissen, die Psychologie aber zu einem festen Kontinent zusammengehämmert hat, jenem fast unsichtbaren, fast unspürbaren Land, welches besiedelt ist vom Volk der ‚Seki’. Das Inselland ist eingesprenkelt in ein anderes, das Mutterland. Kreuz und quer durchsetzt es seine Landschaft, bohrt sich in seine Städte, überschattet seine Straßen – und trotzdem haben manche nichts geahnt, viele nur vage etwas gehört, bloß die Dortgewesenen alles gewusst“ (Prolog).

Obgleich die „Zone“ auf keiner Landkarte verzeichnet war, kannte sie jeder – jeder sollte sie kennen, denn sie war für die Insassen, nicht weniger als für die, die nicht einsaßen, der Ort des Terrors. Dennoch sind mühsame Recherchen notwendig, um den Archipel zu kartografieren. Nicht zufällig beginnt Frank Westermanns Buch über Stalins kolossale Wasserbauwerke und ihre Zwangsarbeiterlager vor einer irreführenden Karte der Sowjetunion (Ingenieure der Seele, TB 2005, 12 f.). Dass man als deutscher Tourist oder Kolonist ins Epizentrum des Zivilisationsbruchs reisen konnte, ohne davon Notiz zu nehmen, beweist der Baedeker Generalgouvernement anno diaboli 1943. Es zeichnet die Utopie eines „judenfreien“ Polen, während die Vernichtung der jüdischen Gemeinden gerade auf Hochtouren lief. Über die frühere Vorstadt von Krakau, Kazimierz, heißt es z. B., „die 1335 durch König Kasimir vor den Toren Krakaus angelegt wurde und Krakau überflügeln sollte, später jedoch z. T. Wohnsitz der jüdischen Bevölkerung Krakaus ([ist] jetzt judenfrei)“ (50).

Soviel konnte Baedeker über das jenseits der Weichsel gelegene Podgórze, wo das Getto von Krakau war, noch nicht melden. Während sein Bandbearbeiter Oskar Steinheil im Herbst 1942 das Generalgouvernement bereiste, lief dort gerade die zweite große Liquidierungsaktion. Deshalb vermerkt er nur den deutschen Anspruch, indem er daran erinnert, dass Josef II. diese Vorstadt im „österreichischen Gebiet“ anlegen ließ (51). Nun haben Wolfgang Benz, der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin, und Barbara Distel, die ehemalige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, den Baedeker der Vernichtung nachgeliefert, der dem Ruf der Unfehlbarkeit des legendären Reiseführers gerecht wird.

Im neunbändigen Atlas des nationalsozialistischen Konzentrations- und Zwangslagersystems Ort des Terrors verzeichnen und beschreiben 300 Autoren die 23 Stammlager und ihre ca. 1000 Außenlager. Nicht gerechnet die 1100 bis 1200 Gettos, die 177 Zwangsarbeitslager der Organisation „Schmelt“ für Juden in Schlesien und im Sudetenland, die 750–800 Zwangsarbeitslager für Juden in den besetzten Ostgebieten, die unzähligen Polizeihaftlager und Arbeitserziehungslager, Zigeunerlager, Jugendschutzlager, die rund 30 000 Fremdarbeiterlager, die ungezählten Kriegsgefangenenlager, sowie die oft genauso grausam geführten Lager der Verbündeten Deutschlands, die in Bd. 9 behandelt werden. Die Herausgeber ziehen Bilanz: „Kaum einen Ort im Deutschen Herrschaftsbereich gab es schließlich, an dem nicht ein Lager existierte“ (Dachauer Hefte 25, 301).

Will man sich in seiner eigenen Umgebung orientieren, muss man nur den Band zum nächstgelegenen Stammlager aufschlagen und findet auf der Innenseite des Umschlags alle KZs verzeichnet. Für den in Heidelberg wohnhaften Rezensenten wäre z. B. das Stammlager Natzweiler-Struthof im Elsass das nächstgelegene KZ gewesen. Es ist aber nicht nötig, in die Vogesen zu reisen, um die ehemalige Todeszone zu betreten. Überall am Neckar, von der Quelle bis zur Mündung, lagen Außenlager von Natzweiler- Struthof. Dem Metalemma Natzweiler-Struthof von Robert Steegmann, der sich mit seinem Standardwerk La Nuée Bleue als bester Kenner dieses „Spiralnebels“ ausgewiesen hat (2005, dt. v. P. Geiger, Das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und seine Außenkommandos an Rhein und Neckar 1941–1945, 2010), folgen 53 Beiträge in alphabetischer Reihenfolge zu den einzelnen Lagerstandorten im Elsass, in Baden, Hessen und Rheinland- Pfalz (Bd. 6, 48–190).

Im letzten Kriegsjahr schufteten in den „Neckarlagern“ Tausende von Häftlingen bei der Untertagverlegung der Kriegsproduktion und bei der Gewinnung von Treibstoff aus Ölschiefer. Im Ländle gab es sogar ein kleines Todeslager, in Vaihingen/Enz. Hier wurden die arbeitsunfähigen Sklaven eingewiesen und der „Vernichtung durch Entkräftung“ überlassen (Steegmann 2010, 233). Die Beschreibung der Zustände in der vom Lagerarzt sogenannten „Baracke der Verreckenden“ entspricht der von Terrence de Pres beschriebenen Anatomie des Todeslagers: „Die Nazis setzten die Gefangenen bewusst und mit Absicht ihren Fäkalien aus. Sie benutzten Kot und Urin zum Angriff auf deren Leben und Würde“ (dt. 2008, 68). Merkwürdig schillert Der Neckar, wenn man sich diese ganze Sklavenwirtschaft in die romantische Landschaft hineindenkt:

„In deinen Thälern wachte mein Herz mir auf / Zum Leben, deine Wellen umspielten mich, / Und all der holden Hügel, die dich / Wanderer! Kennen ist keiner fremd mir.

Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft / Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Thal / Wie Leben aus dem Freudebecher / Glänzte die bläuliche Silberwelle.“ (Hölderlin)

Mit Benz / Distel lernt man auch anderswo seine Heimat mit anderen Augen sehen. Wer Soldau bisher mit den Augen von Georg Hermanowskis „Ostpreußen – Wegweiser durch ein unvergessenes Land“ sah, erfährt z. B. im Beitrag von Uwe Neumärker (Bd. 9, 612–621), dass die Kasernen der Stadt „als zentraler Ort des Terrors für Ostpreußen und als ‚Lernort’ für den Holocaust angesehen werden“ müssen (612). Der Einsatzgruppenleiter Emil Otto Rasch und der erste Kommandant des Vernichtungslagers Chelmno, Herbert Lange, übten hier ihr Mörderhandwerk an polnischen Intellektuellen, katholischen Priestern, psychisch Kranken und Juden. Bis zu 20 000 Opfer wurden in den Wäldern um Soldau verscharrt. Wer die Vertreibung als Unrecht geißelt, wird daran erinnert, was ihr vorausging.

Für die Herausgeber ist „Ort“ aber nicht nur ein topografischer, sondern ein funktionaler Begriff, mit dem das KZ als Herrschaftsinstrument des nationalsozialistischen Systems charakterisiert werden soll.

„Der Ausdruck ‚KZ’ wurde eine der Metaphern des Schreckens, mit denen die nationalsozialistische Diktatur ihren universalen Verfügungsanspruch über das Individuum – von dessen Demütigung bis zu seiner Vernichtung – durchsetzte.“

Wie sehr das KZ von Anfang an der „Ort des Terrors“ war, zeigt Band 2 über die frühen, wilden Lager. Auch wenn man mit Karin Orth eine Eskalation der Gewalt in den Lagern annimmt (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 2, 2002, 97 ff.), so waren die Lager von Anfang an mörderisch, wie man in den Beiträgen „Berlin-Köpenick“ und „Columbia-Haus“ (Bd. 2, 43 u. 57) nachlesen kann. Das hat damit zu tun, dass das Mordprogramm ein konstitutives Moment der NS-Theorie und Praxis war.

Das Wort „Lager“ bezeichnete im NS-Deutsch ja keineswegs nur die Dystopie, sondern auch die Eutopie (Idealgesellschaft). „Kinderlandverschickungslager“, „Schulungslager“, „Wehrertüchtigungslager“, das „Lagerleben im Felde“ usw. waren positiv besetzte Begriffe. Im Lager ohne Vorzeichen sollte die „endgültige Ordnung des Menschen“ (Breymayer/Ulrich) hergestellt werden, eine Ordnung, die keinerlei Abweichung von der Norm duldete. Das KZ sollte alle „Elemente“ dem „nationalen Gesamtinteresse gleichschalten und diesem anpassen“ (A. Hitler). In diesem Sinne war das Lager sowohl Ort der „positiven Auslese“, der Formierung und Erziehung, als auch Stätte der „negativen Auslese“, der „Aussonderung“ und „Ausmerze“ – die NS-Endlösung war die genaue Kehrseite der NS-Erlösung. Für Reisen ins Archipel KZ ist der Benz/Distel künftig ein unverzichtbarer Führer.

Daniel Krochmalnik, Heidelberg


Jahrgang 18 / 2011 Heft 3 S. 215


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