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Eduard Seidler

Jüdische Kinderärzte 1933–1945. Entrechtet – geflohen – ermordet

Dieses Buch ist viel mehr als eine Dokumentation der Verfolgung jüdischer Kinderärzte im Nationalsozialismus, oder anders gesagt, es dokumentiert etwas, was wir von einem solchen Unternehmen, das sich auf einen bestimmten sozialgeschichtlichen Bereich konzentriert, nicht erwarten würden:

„… unsere junge Generation soll wissen, was Menschen in unserem Jahrhundert in einer ‚christlichen’ Bevölkerung unter dem Druck einer teuflischen Übermacht sich zuschulden kommen ließen, da sie diese Übermacht nicht als böse erkannt haben. So wurden sie selbst unmenschlich.“

Das vorangestellte Zitat der Kinderärztin Elsa Liefmann lässt aufhorchen. So ist eine Richtung vorgegeben, die Wahrheit schonungslos aufzudecken und alles mit Namen zu nennen. Die Verantwortlichen des Unrechts, die Nutznießer und die Opfer. Das Buch zeigt, wie sich die verbrecherische Politik im Alltag auswirkte, und wie die Umdeutung des Bösen funktionierte. Der Medizinhistoriker Eduard Seidler hatte im Jahr 2000 eine erste Fassung der Dokumentation vorgelegt und sie als noch nicht abgeschlossen betrachtet. In der neuen erweiterten Auflage finden sich nun über 120 Ergänzungen, die auch komplette Neueinträge in das Lexikon beinhalten. Seidler schreibt im Vorwort:

„Nur das Gedächtnis bewahrt dem Einzelnen jene Identität, die einmal ausgelöscht werden sollte; nur die Erinnerung hilft versöhnen. Jeder Name in diesem Buch steht für einen Menschen, dessen Leben einmalig war.“

Nach dem folgenden sehr eindringlichen Einführungstext in das Thema findet sich das Herzstück des Buches: Die biografische Dokumentation, in der in Lexikonform die Daten der Verfolgten zusammengetragen wurden, wenn möglich mit Foto versehen. Die Einträge sind manchmal fragmentarisch, bei dürftiger Quellenlage, und nach wenigen Zeilen folgt: „Weiteres Schicksal unbekannt“.

Ergänzend zu den Daten kommen Zitate hinzu, aus Selbstzeugnissen oder Äußerungen von Zeitgenossen. Hier findet sich Erhellendes und Erschütterndes, was die einzelnen Biografien, aber auch das Schicksal von allen Verfolgten betrifft, zum Beispiel der Entzug der Krankenkassenzulassung. Ein kleines Blitzlicht, wie der Tagebucheintrag von Hertha Nathorff am 30. Juni 1933, zeigt schlimme Vorahnung:

„Die letzte Kassensprechstunde. Ich habe tapfer durchgehalten. Meine Wohnung gleicht einem blühenden Garten. Abschiedsblumen. Wie das ist, sein eigenes Begräbnis zu erleben! Wie viele Kollegen mögen heute das Gleiche empfinden!“

Auch die, die nicht ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden, mussten ihr Leben und ihre Arbeit unter Zwang unterbrechen. Und selbst die, die eine neue Heimat fanden und ihren Arztberuf dort weiter ausüben konnten, litten doch an der Entwurzelung: Dr. Werner Solmitz, dem es gelang auszuwandern, schreibt 1950 in einem Brief:

„Meine Akklimatisation an Amerika, so dankbar ich dem Los bin, das mich hergebracht hat, steht doch mehr oder weniger unter dem Motto, wie es im Zauberberg heißt: ‚Man gewöhnt sich daran, dass man sich nicht gewöhnt […]’.“

Bettina Klix, Berlin


Jahrgang 18 / 2011 Heft 3 S. 233−234


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