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Daniel Boyarin

Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums

Mit dieser Veröffentlichung wird die deutsche Übersetzung von Daniel Boyarins Buch „Border Lines“ vorgelegt, die 2004 in den USA erschienen ist. Dieses Werk des jüdischen Religionsphilosophen Boyarin, der sich selbst als orthodoxer Jude definiert und seit 1990 an der University of California, Berkeley, Talmud lehrt, hat internationale Beachtung gefunden und zahlreiche kontroverse Diskussionen ausgelöst. Deshalb ist es zu begrüßen, dass es nun auch für deutschsprachige Leser zugänglich ist. Jedoch muss zu Beginn eine Warnung ausgesprochen werden:

Der ideenreiche Text ist – wie bei Boyarin üblich – in eine sprachlich höchst eigenwillige Form gekleidet, welche das Verstehen (auch mit dem Hilfsmittel der Übersetzung) erheblich erschwert, ja bisweilen fast unmöglich macht. Der Sprachstil ist sehr persönlich gehalten, bisweilen intuitiv oder poetisch gefärbt. Die Gedanken bauen nicht linear aufeinander auf, sondern erscheinen zirkulär oder assoziativ; eine systematische Gliederung ist kaum zu erkennen. Insbesondere die Einleitung im 1. Kapitel, die einen methodologischen Vorbau bieten will, erweist sich als sperrig. Für Leser, die sich dadurch überfordert fühlen, könnte es hilfreich sein, zunächst die Teile I bis III zur Kenntnis zu nehmen und erst zum Schluss auf die Einleitung zurückzukommen. Wer sich aber der Mühe unterzieht, sich durch diesen schwierigen Text hindurchzuarbeiten, wird dadurch belohnt, dass er eine Sichtweise von der Beziehung zwischen Judentum und Christentum kennenlernt, die revolutionär ist. Ein Buch, in dem tatsächlich etwas Neues vorgetragen wird, das gibt es nicht allzu oft, und so werden Boyarins Thesen zu Recht als bedeutender Beitrag wahrgenommen (ein Querschnitt durch die internationale Kritik findet sich z. B. in der Zeitschrift Henoch in Nummer 1/2006).

Boyarin stellt die weit verbreitete Überzeugung in Frage, dass sich das Christentum sozusagen mit innerer Notwendigkeit aus dem Judentum heraus entwickelt habe. Das „parting of the ways“, welches üblicherweise schon in das erste Jahrhundert datiert wird, setzt Boyarin wesentlich später an, nämlich für die Zeit zwischen dem 2. und 4. Jh. Der Autor sieht die Auseinanderentwicklung von Judentum und Christentum als einen länger währenden Prozess, der komplex und kontingent ist (also auch anders hätte verlaufen können).

Boyarin versteht dieses Geschehen in Zusammenhang mit der konstantinischen Wende und als Folge innerchristlicher Entwicklungen: „Christliche Häresiologen definierten die Größe ‚Judentum’, um das Wesen christlicher Identität in Abgrenzung davon zu entfalten“ (so fasst es der Klappentext zu Boyarins Buch prägnant zusammen). "Das Judentum" ist demnach gewissermaßen eine Erfindung der Christen. Folgerichtig hat diese Konstruktion auch nur innerhalb des Christentums überzeugen können; die Juden selbst haben sich geweigert, eine Religion im christlichen Sinne zu sein. Daraus resultiert der kategoriale Unterschied zwischen diesen beiden Glaubensgemeinschaften, und dies wiederum ist ein Grund für manche Verständnisschwierigkeiten im christlich-jüdischen Dialog.

Boyarin stützt seine innovativen Thesen vor allem durch die Interpretation zahlreicher Dokumente. Sein Quellenstudium ist breit angelegt, einfühlsam und originell. Dadurch eröffnet er den Lesern oftmals überraschende Einsichten und vermag sie durch seine Schlussfolgerungen zu gewinnen. Allerdings ist seine Argumentation bisweilen auch zirkulär angelegt – in den Worten von Joel Marcus, einem seiner prominentesten Kritiker: „Time after time, Boyarin assumes his thesis rather than trying to establish it; then proceeds to unpack its implications.“

Ein anderer Vorwurf, welcher dem Buch gemacht worden ist, lautet, dass es ein apologetisches Werk bzw. zu polemisch gegenüber dem Christentum sei. Dennoch kann es als wertvoller Beitrag für den christlich-jüdischen Dialog verstanden werden, indem es dazu beiträgt, Missverständnisse abzubauen und ein Gespräch auf Augenhöhe zu ermöglichen.

Jutta Koslowski, Gnadenthal


Jahrgang 18 / 2011 Seite 297−298


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