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W. R. Matthews

Ein Heros des modernen Judentums. In memoriam Leo Baeck

Am 2. November 1956 starb in London ein Mann namens Leo Baeck im 84. Lebensjahr. Viele Leute mögen nie von ihm vernommen haben, denn er war eine Persönlichkeit, der nicht daran gelegen war, vor die Öffentlichkeit zu kommen, obwohl er in bestimmten Kreisen der meist zivilisierten Länder wohl bekannt war.

Ich habe die Ehre, über ihn zu sprechen, und ich hoffe, Zeugnis abzulegen, daß er sowohl ein großer wie ein guter Mensch war. Er war ein Jude, und er war nicht nur Jude, er war Rabbiner und ein eminenter hebräischer Gelehrter und Theologe. Ich selbst bin Christ. Aber ich betrachte es als eine große Ehre, daß es mir erlaubt ist, ihm meinen Tribut als einem überragenden Denker und Helden eines anderen Glaubens zu zollen.

Leo Baeck verbrachte seine Kindheit in der Stadt Lissa in der deutschen Provinz Posen, wo sein Vater Rabbiner war. Es war ein Ort, in dem sich mehrere Nationen und Religionen trafen, und es gab Spannungen und Kontroversen: Polen und Deutsche, Katholiken und Protestanten, Juden und Christen hatten mancherlei Meinungsverschiedenheiten. Vielleicht war es für den aufwachsenden Knaben im ganzen kein Nachteil, daß er an einem Mittelpunkt lebte, wo so viele Traditionen mit Nachdruck vertreten waren, denn als er erwachsen war, hatte er eine außerordentliche Gabe, Weltanschauungen und Glaubenslehren zu verstehen, die von seiner eigenen verschieden waren. Er wurde in der Schule und an der Universität mit der Gelehrsamkeit und der Kultur sowohl jüdischer Theologen wie deutscher Historiker und Philosophen bekannt. In Berlin, wo er studierte, war er ein Lieblingsschüler des bekannten deutschen Denkers Wilhelm Dilthey, dessen Hauptinteresse die Geschichtsphilosophie war.

Das intellektuelle Werk Baecks wurde von zwei Einflüssen beherrscht, die beide seinen Geist. bestimmten: Die moderne Gelehrsamkeit und der jüdische Glaube. Er brachte zur Interpretatio des Judentums die Ausstattung eines Historikers und die eines Philosophen mit. Sein erstes Ergebnis seiner Studien war ein Buch über „Das Wesen des Judentums“ (1905), das in viele Sprachen übersetzt wurde und wahrscheinlich sein bedeutendstes Werk ist. Es wurde angeregt durch das, was er als eine falsch Darstellung der jüdischen Religion in dem bekannten Buch „Das Wesen des Christentums“ von dem großen protestantischen Gelehrten Adolf von Harnack ansah. Es war bezeichnend für Baeck, daß er in diesem Buch, das in seiner Anlage kontrovers war, sich nicht damit abgab, Irrtümer zurückzuweisen, vielmehr  damit, die Wahrheit darzulegen, die er sah, und das Verständnis zu fördern. Dies war das Ziel all seines Schreibens – das Verständnis zu fördern.

Das entscheidende Ereignis in Baecks Leben war, als er im Jahre 1912 Oberrabbiner in Berlin wurde. Nachdem er in der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg als Feldgeistlicher gedient hatte, zog er sich zu einer Arbeit in Berlin zurück und nahm führenden Anteil an den deutschen jüdischen Organisationen und allen internationalen jüdischen Angelegenheiten. Sein Ruf als geistiger Führer wuchs ständig. Sah er die Zeit der Bewährung voraus, die im Kommen war, als er in das Amt einer führenden Persönlichkeit kam? 1925, als allem äußeren Anschein nach die Aussichten hoffnungsvoll waren, scheint es, als ob er über das Märtyrertum nachgedacht habe; wie wenn es nicht weit weg liege. In einem Brief an einen Freund schrieb er:

„Wir entdecken zwei Wurzeln unseres Wesens in uns selbst. Jeder Mensch ist ein Bürger zweier Welten. Aus dieser Tatsache ergeben sich Aufgaben und Konflikte für jedes menschliche Wesen. Daraus kommt alles Märtyrertum. Der Mensch gehört der staatlichen Sphäre an und der Sphäre Gottes. Welchem Gesetz soll er gehorchen, wenn der Konflikt kommt? Es mag die Stunde kommen, da man gezwungen ist, zu optieren – für das Zeitliche oder für das Ewige. ,Gehe weg aus deinem Lande’, sagte Gott zu Abraham. Zu optieren, bedeutet, bereit zu sein, ein Märtyrer zu werden, den Vorrang der Religion anzuerkennen und ihrer Gebote, ihren Vorrang über alles andere.“

Ich habe diesen Brief ausführlich zitiert und er gibt den Glauben klar wieder, der Leo Baeck in der schrecklichen Verfolgung erhielt, die bald darauf ausbrechen sollte, und die Art der Botschaft, die er für seine Mitleidenden hatte, damit sie fest zu stehen vermochten. Ein anderer Satz aus dem gleichen Brief zeigt, daß, ehe Hitler auf der politischen Szene erschien, Baeck die moralische Schwäche erkannt hatte, die Hitler möglich machte. Er schreibt:

„Es ist ein geistiges und ein moralisches Unglück für die Deutschen, daß so viele Menschen in führenden Positionen seit längerer Zeit nichts von den beiden Sphären wissen und daß die Tatsache, ein Deutscher zu sein, zu einer Religion geworden ist.“

Dies ist sicher eine Lehre, die wir gut täten, uns zu eigen zu machen, gleich, ob wir Christen oder Juden sind. Das Wachstum des Antisemitismus in Deutschland und der entschiedene Versuch der Nationalsozialisten, alle Juden aus dem Reich auszuschalten, trieben Baeck nicht dazu, seine Sicherheit in der Flucht oder im Dunkeln zu suchen, sondern im Gegenteil, mehr als je wurde er die prominente jüdische Persönlichkeit und ihr treuer Vorkämpfer.

Als 1933 Hitler und die Nationalsozialisten zur Macht kamen und der Antisemitismus freien Lauf hatte, das schlimmste zu tun, nahm er den gefährlichen Posten des Präsidenten der Jüdischen Reichsvereinigung an. Von da vernahm er selbst die verzweifelte Aufgabe, mit den Tyrannen zugunsten ihrer Opfer zu verhandeln und zu retten, was von dem Wrack eines jüdischen Gemeindelebens zu retten war. Man kann sich schwer vorstellen, welch hartnäckiger Mut und welche Geduld und Schlangenklugheit notwendig waren, um bis zum Ende einen Kampf zu führen, den man niemals gewinnen konnte. Aber dies war nur ein Teil seiner Aufgabe. Die verfolgten und erschrockenen Juden brauchten Ermutigung und Stählung, um das Leid zu tragen, ohne ihren Glauben zu verraten. Die Emigration jüdischer Familien in befreundete Länder war in großem Ausmaße zu regeln und angesichts unzähliger Schwierigkeiten seitens der NS-Regierung in die Wege zu leiten, und ferner mußte man für die Erziehung jüdischer Kinder sorgen, die in Deutschland blieben und die von allen deutschen Schulen ausgeschlossen wurden. All dieses war unter beständiger Bedrohung zu tun.

In der Tat war Baeck fünfmal verhaftet, ehe er schließlich in das KZ-Lager Theresienstadt kam. Es ist fast unglaublich, aber in der Tat fand er in dieser Zeit (1933–1938) und inmitten überwältigender Aufgaben noch Zeit, sich dem Studium der Evangelien zu widmen und sie mehr als einmal aus dem Hebräischen zu übersetzen, mit dem Zweck, das hebräische Element in ihnen sichtbar zu machen. Er veröffentlichte das Ergebnis seiner Studien unter dem Titel: „Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte“. Inmitten der dringendsten Aufgaben dieser kritischen Jahre suchte er nach einem tieferen Verständnis seiner Religion.

Als man ihn 1939 zum Präsidenten der Weltvereinigung für progressives Judentum wählte, erhielt er so eine noch mehr herausgestellte Position eines repräsentativen Juden in den Augen der Judenhasser. Im September desselben Jahres fing Hitler den Krieg an. Es ist ein Jahr voller Erinnerungen für uns alle. Doch gibt es einen Wesenszug jenes Krieges, den wir immer wieder vergessen und den wir vergessen möchten – aber zu unrecht. Das Kriegsziel des Nationalsozialismus war nicht nur die Beherrschung Europas und schließlich der Welt, sondern eines der Ziele war die Ausrottung der Juden. Inspiriert durch einen falschen Glauben an die Herren-Rasse, die, wie Baeck vorausgesehen hatte, eine Art fanatischer Religion wurde, führten sie eine systematische Abschlachtung der Juden durch mit dem Ziel, wie sie sagten, die Herren-Rasse frei von Vermischung zu halten. Wir wollen nicht bei dem Schrecken von Belsen und ähnlicher Lager verweilen. Aber wenn wir uns ihrer nicht erinnern, können wir das Leben und den Charakter Leo Baecks nicht richtig würdigen.

In jenen dunklen Tagen mag er sich oft seine Überlegungen über das Märtyrertum wieder ins Gedächtnis zurückgerufen haben, über das er 1925 an seinen Freund schrieb; aber es war seine Pflicht, solange wie möglich am Leben und frei zu bleiben, um die Lager zu besuchen und die Reste des jüdischen Volkes zusammenzuhalten. Diese qualvolle Freiheit konnte nicht andauern. Es ist vielleicht überraschend, daß sie so lange währte, bis Januar 1943. Fast 70 Jahre alt, wurde Baeck wieder verhaftet und in das KZ-Lager für Juden nach Theresienstadt geschickt, ein Lager, aus dem es keine Befreiung außer dem Grab zu geben schien. Die Autoritäten schienen erkannt zu haben, daß Baeck eine Persönlichkeit war und machten ihn zu einem Mitglied des sogenannten Rates der Älteren, einer Selbstverwaltung, die teils ein Schaustück zur Täuschung neutraler Länder war und teils dazu diente, Ordnung unter den Gefangenen zu halten. Baeck und andere bekannte und ältere Gefangenen mußten harte und degradierende Arbeit tun, wie z. B. Wagen ziehen, als ob sie Lasttiere wären. Von Zeit zu Zeit wurden Schübe von Gefangenen in Güterwagen hinweggeführt, und man hörte niemals wieder von ihnen. Der schreckliche Betrieb hielt so an.

Der alte Mann aber gab niemals der Verzweiflung Raum. Er war Seelsorger für seine grausam zusammengepferchte Herde. Es wird berichtet, daß er unter größter Gefahr Vortragskurse hielt, nachdem die Lichter erloschen waren, über Geschichte und Philosophie von Plato bis Kant in einer der Baracken. Es wird erzählt, daß 700 Gefangene wie Weintrauben an ihren Betten hingen, um ihn zu hören. Es ist etwas tief Ergreifendes, im Gedanken an diesen alten Gelehrten, der versuchte, seinen Mitleidenden zu helfen, indem er ihre Gedanken von der verzweifelten Gegenwart auf die großen Denker der Vergangenheit lenkte, die ihren Geist auf das ewige Geheimnis des Daseins gerichtet hatten.

Noch einmal wurde das Leben Baecks, wie es scheint durch einen Zufall, gerettet, aber einem religiösen Geist muß es eine besondere Vorsehung Gottes dünken, der noch mehr Arbeit für ihn in dieser Welt hatte. Durch einen Irrtum wurde er als tot erklärt, und auf diese Weise war sein Name nicht auf der Liste jener, die zum Sterben bestimmt waren. Jedoch am Ende schien der Tod näher zu kommen. Denn der SS-Offizier [Eichmann], der die jüdischen Angelegenheiten kontrollierte und das Lager besuchte, war erstaunt, Baeck noch am Leben zu finden. Ich entnehme diesen Bericht dem Leben Baecks von Hans Bach aus der ,Synagoge Review’. Einige Tage nach diesem Besuch des SS-Offiziers sagte man ihm, daß er am nächsten Tag erschossen werden sollte. Er verbrachte die Nacht und bereitete sich auf das Martyrium vor, das er so lange erwartet hatte, „verwurzelt“, wie er sagte, „im Königtum Gottes".

Zwei Wunder:

Es geschah nicht. An dem Morgen, der für die Exekution vorgesehen war, erschienen unerwartet die ersten russischen Truppen und durchsuchten das Lager, befreiten die Gefangenen, ein wunderbares Entgehen. Aber nun folgt etwas, was ich für noch wunderbarer halte – ein moralisches Wunder. Die Russen überließen die gefangenen SS-Wachen der Rache ihrer Häftlinge. Baeck hätte sofort abreisen können und sich zu Freunden begeben, und wer hätte ihn getadelt, nachdem er so viel erlitten hatte? Aber er zog vor, zu bleiben, bis alle seine Mitgefangenen die nötige Fürsorge hatten, und was geschah den SS-Wachen?

Als die Russen das Lager in Besitz nahmen, war Baeck der einzige führende Kopf des Lagers, mit dem sie zu tun hatten. Er benutzte die Kenntnis des Russischen, um sie zu überreden, den SS- Gefangenen nichts zu tun, und sie hatten dem natürlichen und leidenschaftlichen Verlangen ihrer Leute nach Rache zu widerstehen. Baeck überredete auch die Häftlinge, jenen nichts zu tun und auf Rache zu verzichten. Wenn man sich in die Rolle dieser Häftlinge hineinversetzt, die nun die Macht hatten, das, was sie von ihren brutalen Peinigern erlitten hatten, teilweise zu vergelten, wie alle ihre natürlichen Instinkte dazu treiben mußten, jenen heimzuzahlen, durchzuführen, was einem gerecht erschien, so war dies ein Motiv, das natürlicher war als das, sich selbst zu zügeln. Sie wurden aber von dem brennenden Glaubensgeist eines Mannes zurückgehalten, der „im Königtum Gottes verwurzelt“ war. Meine jüdischen Freunde werden mich nicht mißverstehen, wenn ich die Worte Jesu nenne, die mir da einfielen, Worte, an die der Christ es manchmal schwer hat, sich zu erinnern, und noch schwerer, ihnen zu gehorchen:

„Liebet eure Feinde, tuet Gutes denen, die euch hassen, segnet die, die euch fluchen, betet für die, die euch verfolgen.“

Es war der Höhepunkt der Laufbahn Baecks, aber es war keineswegs das Ende. Er kam nach England, in die Familie seiner Tochter. Jene, die ihn trafen, konnten die Zeichen seines Leidens und Arbeitens erkennen, aber selbst nun fühlte er sich nicht als verausgabte und erschöpfter Mann. Sein Geist war noch intakt und kräftig, und in der Tat war er für die letzten zehn Jahre seines Lebens voller Aktivität. Er schaute nicht zurück, sondern vorwärts. Alle großen Menschen scheinen einen Vorrat von Vitalität zu besitzen, der über die normaler Menschen hinausgeht, und im Fall Baecks war dies sichtbar genug.

Anfechtungen, die den Geist mancher kräftigen Personen hätten vernichten können, ließen diesen schwachen alten Gelehrten voller Energie nach neuen Gelegenheiten zum Dienst an seinem Volk ausschauen und zum Dienst an der Sache der Freiheit und Gerechtigkeit. In seinen öffentlichen Äußerungen, wenngleich er sich natürlich auf das Leid und die Vernichtung durch die schwere Verfolgung der Juden Europas bezog,  erwähnte er, soweit ich weiß, niemals die Prüfungen und Lasten, die er selbst zu tragen gehabt hatte. Ich habe niemals in der Unterhaltung auch nur eine einzige Andeutung von ihm gehört, daß er eine schwere Zeit im Krieg zu tragen gehabt hätte, es war, als ob er jenen Teil seiner persönlichen Erfahrung ausgetilgt hätte.

Er wurde weit mehr als nur eine weltbekannte Gestalt, ,das lebendige Symbol des jüdischen Überlebens’, wie Hans Bach richtig sagt. Es ist ein wunderbarer Gedanke, daß er niemals ein Wort sprach, das irgend eine Andeutung eines Hasses aufrecht erhielt, sondern daß er alle seine Energie dem Aufbau und der Versöhnung zuwandte. Er wurde britischer Staatsbürger, und wir können uns freuen, daß er dieses Land liebte und ehrte, daß seine Interessen aber weltweit waren. Er arbeitete praktisch für die Lösung vieler Probleme, die der Krieg über die Familien und das Eigentum der deutschen Juden gebracht hatte. Aber wie immer war der Durst nach Weisheit und nach Verstehen eine in ihm lebendige mächtige Kraft. Er lehrte mehrere Winter im Hebrew Union College in Cincinnati. Er war mit der Errichtung der Leo-Baeck-Stiftung zum Studium jüdischen Denkens und der jüdischen Geschichte beschäftigt, und in den letzten Wochen seines Lebens schrieb er die letzten Worte seines Buches ,Dieses Volk’.

Unter den Aufgaben, die seine warme Unterstützung fanden, war der ,Rat der Christen und Juden’, dem ich als eines der ersten Mitglieder angehöre. Der Rat begann zu einer Zeit, als der Antisemitismus Europa bedrohte, aber bevor er noch die erschreckenden Ausmaße annahm, die die Welt erschreckten. Seine Ziele sind nicht die Bekämpfung des Antisemitismus, sondern die Förderung des Verstehens von Judentum und Christen und von Christentum und Juden. Beide Ziele waren dem Herzen Leo Baecks teuer, und ich will mit zwei seiner Aussprüche schließen, die auf seine Arbeit im Rate bezug haben. Der erste ist aus einer Rede, die er auf einer internationalen Konferenz von Christen und Juden 1946 hielt:

„Die Katastrophen der vergangenen Jahre beweisen, daß es nicht möglich ist, daß ein Unrecht nur irgend einem zugefügt wird, und das Unrecht, das einem anderen zugefügt wird, nicht auch Unrecht gegen einen selbst ist, oder daß Ungerechtigkeit gegenüber irgendwem nicht auch Ungerechtigkeit gegenüber allen ist.

Es hat sich gezeigt, daß das Leben und der Glaube der großen Religionen der Welt heute ineinander verflochten sind. Das, was eine Religion bedroht, wird früher oder später eine andere bedrohen. Darum schweige um deiner eigenen Person willen nicht, und um deiner selbst willen stehe nicht abseits und schaue nur zu! Die gemeinsamen Grundlagen sind in Gefahr.“

Mein zweites Zitat stammt aus einem Brief an W. W. Simpson, den Sekretär des Rates der Christen und Juden, aus dem Jahre 1955. Als Baeck damals krank zu Bette lag, hatte er, wie er sagte, Zeit zum Nachdenken, und er schreibt:

„Ich dachte also über den Rat der Christen und Juden nach und versuchte, mir ein Kapitel der Geschichte Englands im Jahre 2055 vorzustellen. Ich dachte und ich denke, daß zu einer solchen Zeit dieser Rat als eine der großen historischen Errungenschaften erscheinen wird, vergleichbar etwa dem Toleranzedikt von 1689.“

An seinem 80. Geburtstag nahm Leo Baeck von Bundespräsident Heuss das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland an. Zum Abschluß seines Lebens klingt der Ton der Versöhnung mit dem Lande durch, in dem er ein verfolgter Ausgestoßener gewesen war.

Wir können eine solche selbstlose und weise menschliche Persönlichkeit nur bewundern und verehren. Ob Juden oder Christen, können wir aber vielleicht noch mehr tun als nur zu bewundern. Wir können etwas von seinem Beispiel lernen: daß ein Mensch ein triumphales Leben in den allerschwersten Anfechtungen führen kann, wenn er „verwurzelt ist im Königtum Gottes“.


X. Folge 1957/58 Nummer 37/40 Seite 108−110.



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