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Rabbiner Dr. Eugen Messinger

Die religiöse Hoffnung des jüdischen Volkes – heute

Nachdem Professor Heinz Kappes als evangelischer Theologe Januar 1949 im Rahmen der Freiburger Arbeitsgemeinschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in den Räumen der Staatskanzlei über „Palästina heute“ gesprochen hatte, sprach im Rahmen der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ am 19. November 1950, 20.15 Uhr, im Hörsaal 6 der Universität Freiburg Rabbiner Dr. Eugen Messinger, Bern, über das obige Thema.

Der Rektor der Albert-Ludwig-Universität, Prof. Oehlkers, begrüßte als Hausherr die Erschienenen und unterstrich die Bedeutung der Tatsache, dass Herr Rabbiner Dr. Messinger aus Bern nach Freiburg gekommen war. Das deutsche Volk habe in der schauerlichen jüngsten Vergangenheit unendlich viel Schuld auf sich geladen und Menschen unsagbar viel Leid angetan. Erst fünf Jahre seien seither vorüber. Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit beabsichtige, die Schatten der Vergangenheit in tätiger Gemeinsamkeit überwinden zu helfen.

Magnifizenz Prof. Oehlkers hob ferner als bedeutsam hervor, dass die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit für ihren ersten Vortrag gerade ein religiöses Thema gewählt hat. Er erinnerte daran, dass das erneuerte jüdisch-christliche Gespräch schon vor 1914 von Freiburg ausgegangen war, als Franz Rosenzweig, als damaliger Student der Universität Freiburg jüdischerseits dieses Gespräch mit Eugen Rosenstock und Rudolf Ehrenberg begonnen hat.

Von katholischer Seite sprach sodann Prälat Professor Allgeier, als Vertreter der theologischen Fakultät, der ausführte: Wir wollen heute anknüpfen an ein Wort Pauli im Römerbrief: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“ Der Apostel weist dann auf die Griechen und Juden seiner Zeit hin und zeigt sie durch Gottes Heilsplan letztlich miteinander verbunden. Diese innere Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, daran liegt uns heute viel. Wir sind grundsätzlich nie Feinde gewesen und sind es heute am allerwenigsten. Wenn auch da und dort Absichten und Neigungen zu solchen Feindschaften hervortreten und spürbar werden, dann wollen aber alle diejenigen, die sich zum Worte des Apostels bekennen, von solcher Feindschaft nichts wissen und wollen dazu beitragen, dass eine ruhige und sachliche Beurteilung der Lage eintreten und in weiteren Kreisen verbreitet werden möge.

Rabbiner Dr. Eugen Messinger legte in seinem Referat folgende Gedanken dar:

Die Worte der Vorredner machen mir die Einleitung leichter. Vor 10 Tagen stand ich in Bern in meiner Gemeinde einer Feier vor zur Erinnerung an die Synagogen-Verbrennungen vom 9. November 1938 und wir enthüllten gleichzeitig auch eine Gedenktafel mit einem Seelenlichtlein, das nun immer brennen soll zum Andenken an die mehr als 6 Millionen Juden, die in der Deportation vernichtet worden sind. Als ich an dieser Feier stand, musste ich zugleich denken: am 19. November wirst du in der Universität Freiburg stehen; da ging in mir ein Tumult von Gedanken vor.

Ich habe heute seit 1932 zum erstenmal wieder deutschen Boden betreten. Ich bin in der Schweiz geboren, bin ihr Bürger, ich hätte auch nach 1933 deutschen Boden betreten dürfen aber ich hatte es nicht fertiggebracht, und wenn ich heute doch hier stehe, dann soll es nun wirklich in dem Zeichen geschehen, das für uns Juden zum Alltagsgruß geworden ist und das es schon immer war, im Zeichen des Wortes „Schalom“, d. h. Friede. In der Hoffnung, dass über all dem, das wir noch nicht vergessen können, über alles Ungeheuerliche hinweg, doch die Kraft des Friedens sich ausbreiten möge und zum Zeugnis, dass auch die Juden gewillt sind, die Hände, die sich uns zum Frieden entgegenstrecken, nicht auszuschlagen.

Meine Damen und Herren! „Die religiöse Hoffnung Israels – heute!“

Die religiöse Hoffnung Israels, so steht es schon in der Hl. Schrift, ist letzten Endes nur im Blick und Aufblick zu Gott zu verstehen. Bei Jer 17,13 heißt es: „Die Hoffnung Israels ist der Herr.“ Nun kann das ganz allgemein aufgefasst werden. Von Gott hoffen wir immer wieder Kraft zu erhalten im Alltag, in den Schwierigkeiten irgend einer Stunde, aber für Israel schließt diese Hoffnung noch etwas Größeres in sich, etwas, das zunächst ganz Israel und dann über Israel hinaus die gesamte Völkerfamilie der Welt umfassen soll. Und da kommen wir zu der messianischen Hoffnung, die nicht aufgehört hat in den Herzen der Juden zu glühen und die nicht aufgehört hat unsere Federn in Bewegung zu setzen und unsere Lippen, und die nicht aufhören soll unsere Taten zu bestimmen, damit diese messianische Hoffnung sich einst erfülle. Diese Hoffnung finden wir in den Propheten-Worten gedeutet und umschrieben:

„Da wird der Berg des Herrn festgegründet stehen – und alle Völker werden zu ihm hinstreben, und viele Nationen werden sich aufmachen und sprechen: Kommt, lasset uns hinaufziehen zum Berge des Herrn, zum Hause Jakobs – denn von Sion wird das Wort des Herrn ausgehen – es wird Recht sprechen zwischen den Völkern und wird Weisungen geben vielen Nationen ... Kein Volk wird wider das andere das Schwert erheben und sie werden Krieg nicht mehr schauen. – Auf, lasset uns wandern im Lichte des Herrn!“

Diese Hoffnung, dass der Tag einst kommen wird, wo die Völker sich verstehen werden, wo man nicht mehr Krieg führen wird, sondern wo man gemeinsam dem Frieden dient, dem wahren Fortschritt der Menschheit; dass dieser Tag einst anbrechen wird, das ist und bleibt die Hoffnung Israels.

Doch das Thema des heutigen Abends lautet ja ,Die Hoffnung des jüdischen Volkes – heute’ und da will ich versuchen, Ihnen eine Darstellung zu geben, die etwas Besonderes betrifft, nicht diese allgemeine Hoffnung, die schon immer in unserem Volke wach war und wach geblieben ist bis auf die heutige Zeit und an die wir glauben, denn wir glauben an das Kommen dieser Zeit! Sondern ich möchte heute Abend zu Ihnen sprechen von der religiösen Hoffnung Israels in dieser besonderen Stunde, in dieser Zeit, und damit meine ich die Zeit nach der Wiedererstehung des Staates Israel.

Die jüdische Religion hat zweifellos im Laufe der Jahrtausende einen Prozess der Verknöcherung durchgemacht. Das jüdische Volk, das seit zweitausend Jahren vom eigenen Boden vertrieben war, klammert sich begreiflicherweise an das geistige Gebäude, an die Lehre, wie sie damals festgehalten wurde. Und da diesem Volke im Laufe seiner Geschichte meist nicht lange Ruhe gelassen wurde, blieb keine Zeit, dieses geistige Gebäude weiterzuführen, das vorher immer im Bau gewesen war, sondern man versuchte, noch in den alten Mauern, wie sie seit der Zeit vor fast zwei Jahrtausenden bestanden, sich in diesen Mauern religiös auswirken zu können, man versuchte, das Leben in diesen Mauern leben zu können. Die mündliche Lehre, die wohl bis in die Zeit Moses zurückreicht, die als Tradition von Lehrer zu Schüler, von Vater zu Sohn weitergegeben worden war, war in einem Fließen begriffen, und weil sie nur mündlich, nicht schriftlich fixiert war, weil sie in einem steten Weiterdrehen begriffen war, war sie lebendig geblieben.

Diese Lehre war unmerklichen, aber doch im Laufe der Zeit feststellbaren Veränderungen unterworfen. Bis die Zeit kam (die römische Besatzung in Palästina vor und nach Christus), als die religiösen Führer, die Männer der Wissenschaft erkannten, dass dem Volke eine Zerstreuung drohte; da wurde beschlossen, die mündliche Lehre zu sammeln, festzulegen, niederzuschreiben; und die Niederschrift dieses mündlichen Wissens, das ist der Talmud, über den so viele Märchen umgehen, von dem so viele meinen, dass er ein geheimes Gut sei, von dem so viele meinen, dass er dem Juden unrechtmäßige Handlungen gegenüber den Nichtjuden gestatte. O, würde doch jeder einen Blick in dieses Buch tun (es ist in allen größeren Bibliotheken zu finden!).

Es ist also die Niederschrift der mündlichen Lehre, die einerseits ein größerer Vorteil war, da uns dadurch die Denkweise jener Zeit erhalten geblieben ist in einem einzigartigen Werk (fast ein Universal-Lexikon, nur leider nicht alphabetisch geordnet). Die Herren, besonders die Theologen unter Ihnen, werden mir beipflichten, dass es nicht einfach ist, sich in ihm zurecht zu finden. Die Gelehrten kamen damals regelmäßig, meist zweimal im Jahre, zusammen. Bei diesen Zusammenkünften wurde nun sozusagen Protokoll aufgezeichnet. Die Sprache ist eine abgekürzte. Der Schreiber hatte scheinbar Mühe, dem Gang der Verhandlungen nachzukommen, oft bricht ein Thema scheinbar ab und ein anderes wird herangeführt. Dieses Werk ist an sich zu begrüßen, weil es uns Einblick gewährt in die Denkweise von Jahrhunderten, die schon so lange zurückreichen (schon im 5. Jh. ist das Werk völlig abgeschlossen!).

Andererseits hat die Niederschrift der mündlichen Lehre für das religiöse Leben der Juden eine große Beeinträchtigung mit sich gebracht. Diese Fixierung der Lehre, die vorher lebendig geworden ist, führte zu einer Erstarrung. Man glaubte sich nicht mehr berechtigt, an die Gedankengänge von Vorjahrtausenden eigene Gedanken anzufügen, und dies führte dazu, dass das religiöse Leben der Juden immer mehr verkrustet wurde und eine Erstarrung eintrat, die seit der Emanzipation des Volkes immer krasser wurde.

Noch heute kann der jüdische Gottesdienst, wie er sich in den konservativen Synagogen darbietet, dem modernen Juden Europas nicht das verwirklichen, was er eigentlich wirklich sucht. Auch nicht in meiner Gemeinde, denn wir scheuen uns, selbständig in irgend einer Gemeinde größere Veränderungen vorzunehmen, weil wir hoffen, dass ein neuer Weg gefunden werde, dass die Erneuerung, die Renaissance des religiösen Lebens im Judentum kommen werde.

Bis vor zwei Jahren war diese Hoffnung noch sehr vage, erschien manchem sogar als Utopie, aber nun, nach der Wiedererstehung des Staates Israel ist diese Hoffnung begründet und es besteht Aussicht, dass diese Erneuerung, auf welche die jüdischen Gemeinden aller Welt so sehnlichst warten, und das ist die religiöse Hoffnung Israels heute, dass diese Wiederbelebung des jüdischen religiösen Daseins nun erfolgen wird.

Vor einigen Monaten wohnte ich in Paris einer Rabbiner-Konferenz bei. Der Kultusminister der israelischen Regierung war nach Europa gekommen, um mit Rabbinern Europas die Frage zu besprechen, ob ein Synhedrion wiederum konstituiert werden soll. Synhedrion bedeutet Sitzung und bezeichnet eine hohe geistliche Behörde, die wohl bis in die biblische Zeit zurückreicht. In der Hl. Schrift wird manchmal von den Ältesten gesprochen, die zusammengerufen wurden, und es gab in dieser Zeit die „Männer der großen Versammlung“, eine oberste Behörde, welche den Weg, den man zu gehen hatte, die Norm bestimmen konnten.

In der Zeit vor den Makkabäern nahm das Synhedrion ganz besonders festgefügte Formen an. Es bestand aus 71 Gelehrten. Diese Behörde hatte das Recht, die Bibel, insbesondere die Thora, die 5 Bücher Moses, auszulegen. Sie beantworteten die Anfragen, die aus aller Welt kamen, es gab ja schon in dieser Zeit eine große Diaspora. Schon zur Zeit Christi hat nicht mehr die jüdische Mehrheit im eigenen Lande gelebt, nur eine Minderheit. Das Synhedrion hatte noch die Kraft und die Möglichkeit, die Lehre lebendig zu gestalten. Die Grundsätze, die heute unsere Gottesdienste im Jahre 1950 bestimmen, gehen auf solche Weisungen des Synhedrions zurück. Und wenn wir wiederum ein Synhedrion, eine solche Behörde, schaffen könnten, dann wäre vielleicht zu hoffen, dass sich die ersehnte Erneuerung anbahnt.

Aber, meine Damen und Herren, die Zusammenkunft in Paris mit dem Kultusminister Maymon war eine große Enttäuschung. Die große Mehrheit der in Paris versammelten Rabbiner sprach sich gegen die Schaffung eines Synhedrions aus. Es wurde der Meinung Ausdruck verliehen, die Zeit sei noch nicht gekommen, sei noch nicht reif für die Schaffung oder Wiederschaffung dieser Institution. Als ich im Mai dieses Jahres das große Glück hatte, eine Reise nach Israel unternehmen zu dürfen, und dort mit den Kollegen und dem Oberrabbiner in Fühlung trat, da musste ich erkennen: von den Rabbinern wird die Erneuerung nicht kommen.

Weshalb bin ich nun doch optimistisch? Weshalb bin ich nun dennoch überzeugt, dass aus Israel eine Religionserneuerung kommen wird? Weil ich die landwirtschaftlichen Siedlungen des Landes besucht habe; die Kibbuzim, die Siedlungen auf dem Lande, – das sind Kolonien, von denen man den Besuchern sagt, sie wären nicht religiöse Siedlungen, sogar areligiöse Siedlungen, dort will man keinen Gottesdienst halten, man hält das Sabbatgebot nicht, von den rituellen Speisevorschriften will man nichts hören, – und in diesen nichtreligiösen Siedlungen habe ich das starke religiöse Leben gespürt, viel mehr als in der Hauptsynagoge der Stadt Jerusalem, und in diesen Siedlungen ein größeres und tieferes Erlebnis empfunden als dort.

In diesen Kibbuzim herrscht ein neuer religiöser Geist. Man scheut sich noch von Gott zu sprechen. Ich habe einmal in einem Vortrag in Bern, wo ich über die Reise berichtete, gesagt: Gott ist in diesen Siedlungen inkognito anwesend, d. h. er will nicht genannt sein. Die Menschen dort wollen nicht von Gott reden. Es ist wahr, dass sie keinen Gottesdienst, wie er uns überliefert ist, abhalten, weil es eben die erstarrten Gottesdienste sind, weil sie diese Menschen nicht ansprechen. Dort sind neue Gottesdienste im Entstehen. Ich habe einen Festtag dort miterlebt, als ein Teil der Ernte eingebracht worden ist. Es war ein Dankfest. Man hat mit Ausnahme der Psalmen, die dabei gesprochen wurden, den Namen des Ewigen eigentlich nicht erwähnt, aber in den Psalmen und in den Reden und Liedern, die wir hörten, da war von dem Dank die Rede, den jeder empfindet, da es ihm vergönnt ist, auf dieser Erde von Sand und Bergen wieder Leben sprießen zu sehen.

Mein Optimismus wird noch gestärkt durch eine andere, vielleicht äußerliche Erscheinung. Ich glaube, dass auch der Staat als solcher von einer religiösen Grundwelle getragen wird. Politisch ist in Israel eine sozialdemokratische Regierung am Ruder, die größte Partei im Lande ist eine Partei, welche ungefähr die Richtung der Labourparty einnimmt, also nicht sehr linksstehend, aber doch sozialdemokratisch. Diese Partei war auch maßgebend, als der Staat gegründet wurde und die Gründungsakte geschrieben wurde. Die Männer, die diese Akte schrieben, behaupten vielleicht großenteils von sich, dass sie Atheisten seien, aber diese Männer haben die Gründungsakte des Staates Israel mit den Worten begonnen:

„Wir danken dem Ewigen, dem Herrn, dass er uns diese Stunde hat erleben lassen, und wir wollen uns verpflichten, wenn nun dieser Staat Wirklichkeit ist, dass er im Geiste Gottes und der Lehre, wie sie uns durch die Propheten überliefert worden ist, gestaltet wird.“

Ich glaube, es ist erstaunlich, dass sogenannte Marxisten, solche, die sich selbst meist Atheisten nennen, so etwas schreiben. Oder diese Regierung, die mehrheitlich nicht religiös eingestellt ist, hat zum Staatswappen den siebenarmigen Leuchter aus dem Tempel in Jerusalem gewählt. Ich glaube, das ist doch ein Zeichen, und die provisorische Verfassung, die im Parlament noch behandelt werden muss, hat eine Präambel, in der auch zum Ausdruck gebracht wird, dass sich die Regierung und das ganze jüdische Volk verpflichtet fühlt, den Staat Israel im Geiste der göttlichen Lehre und im Geiste der Propheten aufzubauen.

Meine Damen und Herren, ich bin aus Israel zurückgekehrt mit der Überzeugung, dass sich eine religiöse Erneuerung anbahnen wird. Vielleicht werden wir sie in den nächsten zehn Jahren noch nicht erleben können, vielleicht wird es länger dauern, aber was ist es im Vergleich zu den zweitausend Jahren, seitdem die jüdische Lehre aufgehört hat, lebendig zu sein. (Das betrifft nur die jüdischen Rituale im Gottesdienst, denn auf anderen Gebieten ist das Judentum sehr lebendig.) Wir müssen warten, bis diese jungen Menschen aus den Siedlungen groß geworden sind, und bis aus diesen Reihen Gelehrte hervorgegangen sind und auch Rabbiner.

Das ist nichts Unmögliches, ich habe mit Jugendlichen und jungen Menschen in diesen Siedlungen gesprochen, sie würden gerne die Laufbahn eines jüdischen Geistlichen ergreifen, wenn sie nicht dabei gezwungen würden, diesen verkrusteten Weg zu gehen, von dem ich sprach. Sie wollen die Erstarrung von sich werfen und wollen, dass die israelitische Religion dieses Leben ausstrahlen möchte, welches Israel im Alltag verkörpert.

Es war einmal in der jüdischen Lehre verboten, ein Gebet niederzuschreiben, es war als eine Herabminderung betrachtet worden, ein festgeschriebenes Gebet, das nicht aus dem Herzen kam, Gott vorzutragen. Noch heute können wir in den Synagogen eine Sitte beobachten: Bevor der Vorbeter das Hauptgebet beginnt (Achtzehn-Bitten-Gebet benannt) herrscht große Stille im Gotteshaus mehrere Minuten lang. Was hat diese Stille zu bedeuten? Fragen Sie irgendeinen Juden der Synagoge, er weiß es nicht. Er denkt, damit er zuerst sein Gebet für sich sagen kann. Aber in Wirklichkeit ist es die Stille, die einst, als unser Gottesdienst noch lebendig war, die Stille war, die dem Vorbeter erlaubte, die Gedanken zu sammeln und das Gebet sich ein wenig zurechtzulegen, das er sprechen wollte, nicht ein festgelegtes, gedrucktes Gebet, sondern das, das aus seinem Herzen kam und in die Stunde passte.

Heute ist nur noch die Thora-Vorlesung lebendig und sie steht ja auch mit Recht im Mittelpunkt unseres Gottesdienstes. Immer wieder die Hl. Schrift unserem Volke nahe zu bringen, das Wort auszuleeren und verständlich zu machen, aufzuzeigen, dass das Gotteswort nichts verstaubtes, veraltetes ist, sondern etwas so lebendiges, das nicht aufhört uns immer wieder anzusprechen, das ist noch das Lebendige, nicht aber das Gebet, wie es bei uns leider festgelegt ist, Wort für Wort. Unsere Gemeindemitglieder sind zur Selbsthilfe geschritten, und sie haben recht. Sie beten nicht mehr die vorgeschriebenen, vorgedruckten Gebete mit, oder nur gewisse Teile, sondern sie sammeln sich in Andacht und sprechen still jeder für sich sein Gebet, wie es ihnen das Herz, die Seele eingibt.

Meine Damen und Herren, Ich glaube, dass die Erneuerung des religiösen Lebens im jüdischen Volke, die vom Staate Israel ausgehen wird, dass diese Erneuerung nicht nur in allen Gemeinden der Diaspora sich segensreich auswirken wird, sondern ich glaube, dass diese Belebung des religiösen Daseins des jüdischen Volkes in aller Welt auch dazu beitragen wird, dass das Gespräch, das schon längst aufgenommen worden ist, das sich aber eigentlich mühsam hinschleppt, das Gespräch mit den Nichtjuden, ebenfalls eine Bewegung, eine Erneuerung erfahren wird.

Es wird dann deutlicher als bisher zu Tage treten das große gemeinsame Ziel, denn alle, die Gott den Herrn anerkennen, sie wollen doch auch, dass dieser Tag einmal anbricht, der Tag, da alle Völker zum Berge des Herrn hinströmen werden. Sie wollen doch auch, dass dieser Tag anbrechen möge, da die Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden. Dass dieser Tag anbreche, dass Friede werde und man den Krieg nicht mehr kennen möge, dieser Tag komme! Das sei unser tägliches Gebet. Amen.

Das Schlusswort sprach Kreisdekan Prof. Hof, als der evangelische Mitvorsitzende der Gesellschaft:

Es geschieht gewiss in Ihrer aller Sinne, wenn ich Herrn Rabbiner Dr. Messinger von Herzen danke für das, was er uns heute gesagt hat. Es ist ein Stücklein des Religionsgespräches gewesen, das uns am Herzen liegt. Wir haben in den hinter uns liegenden düsteren, dunklen Jahren versucht, mit denen Gemeinschaft zu halten, wir haben es versucht, so gut wir es nur konnten, denen beizustehen, die geächtet und verfolgt waren. Wir haben es in zu kleinem Einsatz getan, wir haben viel vergessen und versäumt und wissen, dass viel zu wenig geschah. Das muss in dieser Stunde auch gesagt werden. Und nun ist es ein besonderes Anliegen der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, nach der Hand des anderen zu greifen, hinaus über bloße Toleranz, die gerade nur am Leben lässt, hin zu einer wirklichen Gemeinschaft, zu einer Gemeinschaft freilich, von der wir wissen, dass sie nur dort zustande kommen wird, wo wir miteinander in dieses Gespräch geraten, wie es heute begonnen ist.

Dieses Gespräch, an dem wir teilgenommen haben in der Empfindung sowohl des Abstandes wie auch der Gemeinsamkeit, wird überall dort die Herzen berühren, wohin der Klang von der großen Hoffnung und vom Worte Gottes ausgehen wird. Wir wissen, dass dieses Gespräch nur dann recht geführt wird, wenn es vor dem Angesicht dessen, den wir bekennen als den Vater unseres Herrn Jesus Christus, an den wir glauben als an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, geführt wird. Unser Dank sei der Wunsch, den wir ihnen zurückgeben wollen: „Schalom“ (Friede).


III. Folge 1950/1951,  Nr. 10/11, Januar 1951, S. 15–18

 



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