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Werner Trutwin

Weltreligionen. Judentum

Lotse in einem Ozean oder Reiseführer durch einen Kosmos: So lässt sich apostrophieren, was der Autor Werner Trutwin auf nur 143 Seiten unternimmt: das Judentum in der Fülle seiner Dimensionen und Facetten vorzustellen, Verständnis und Interesse zu wecken und für seine Bedeutsamkeit für das Christentum zu sensibilisieren. Trutwin, Nestor der katholischen Religionsbuchautoren seit Jahrzehnten, nähert sich dem Judentum überaus kundig, aufmerksam und mit klarem theologischem Bewusstsein.

Den Stoff ordnet er, wie mir scheint, nach drei Gesichtspunkten: dem des Begleiters und Vermittlers, der die Adressaten gut im Blick hat, weil er erklärtermaßen vermitteln und Verständnis wecken will; dem des Religionswissenschaftlers, der historische und systematische Perspektiven verschränkt, und nicht zuletzt dem des katholischen Theologen, der um die essenzielle Bedeutung jüdischer Identität für das eigene Glaubens- und Selbstverständnis weiß.

„Schlaglichtern“ auf das Phänomen Judentum, etwa seine „Undefinierbarkeit“, sofern es die Kategorien von Religion, Volk, Schicksalsgemeinschaft überschreitet, folgt ein konzentrierter geschichtlicher Abriss. Im Kapitel "Schriften der Heiligkeit" ist außer der Tora und dem Tanach auch dem Talmud eine Doppelseite gewidmet, was sich in Theologie und Religionspädagogik noch keinesfalls von selbst versteht. Es folgen die Kapitel "JHWH – Der Gott Israels", "Der Mensch – das Geschöpf Gottes" sowie "Weisungen zum Leben" (fokussiert auf einen Primat der Praxis, die Zehnworte wie die noachidischen Gebote) und "Alltag und Feste".

Aber auch messianische Erwartungen rücken in den Blick – und inmitten dieser der Jude Jesus von Nazaret. Jüdische Philosophen von Philon von Alexandrien aus der Epoche Jesu über Maimonides, Mendelssohn bis zu Lévinas stehen für die jüdische Religionsphilosophie; ein Kapitel ist den Di- mensionen der Kultur (Architektur, Malerei, Lyrik, Witz) gewidmet. Das Interesse, phänomenologisch sensibel zu verfahren, schlägt sich nicht zuletzt in einem Kapitel nieder, das ganz ausdrücklich die Vielzahl und Vielgestaltigkeit jüdischer (religiöser) Identitäten vor Augen führt: von den Gruppen z. Z. Jesu über die Rabbinen, Kabbalisten und Chassidim bis zu den aktuellen Denominationen des heutigen Judentums. Diese Perspektive wird kontextualisiert, wenn speziell nach Juden in Deutschland – Deutsche(n) Juden gefragt wird.

Der Antisemitismus und seine aktuellen Varianten wie die Assimilation werden als aktuelle Probleme benannt. Ein abschließendes Kapitel öffnet den Blick explizit auf die Beziehung von Judentum und Christentum, aber auch auf den Islam.

Vorab: Dem Rezensenten ist kein vergleichbar gelungener Band zum Thema bekannt. Was macht seine Qualität aus? Er bietet reiches Material aus der schier unübersehbaren Fülle jüdischer Lebensäußerungen. Und dieses Material ist klug ausgewählt und so arrangiert, dass Einsichten in viele Dimensionen und Zusammenhänge möglich werden. Das Ringen, dem lebendigen Judentum der Geschichte und Gegenwart „gerecht“ zu werden, ist durchgängig spürbar. Erkennbar aus einer Haltung von großem Respekt vor und Sympathie für das Judentum geschrieben, kommen fast nur jüdische Voten zum Zuge. Die wenigen eigenen Texte fallen sehr informativ, konzentriert und „uneitel“ aus. Sie absorbieren nicht die Aufmerksamkeit für sich, sondern lenken zu den jüdischen Stimmen.

Anlage und Durchführung spiegeln den Stand der entwickeltesten Theologie des Judentums: dass jüdisches Selbstverständnis anerkannt und möglichst unverzerrt zur Geltung gebracht wird und dies wiederum nicht mit dem Rückzug auf eine distanziert religionswissenschaftliche Position einhergeht. Der Bezug auf die eigene christliche Glaubensidentität – ebenso klar wie diskret artikuliert – kommt zugleich ganz ohne den zuweilen zwanghaft anmutenden Reflex von christlicher Überbietung aus.

So etwa, wenn im Kapitel "Der Messias – Prinzip Hoffnung" Jesus als jüdische Messiasgestalt vorgestellt wird. Das historische Faktum der Zuweisung dieses Titels wird verbunden mit sowohl jüdischen wie christlichen Deutungen. Sie machen die Differenzen deutlich, doch zugleich auch den gemeinsamen Horizont, in dem sie stehen. Vorausweisend auf ein weithin erst noch auszubildendes christliches Bewusstsein scheint mir, wenn in diesem Band zugleich auch nachchristliche Messiasgestalten wie ein Sabbatai Zwi vorgestellt werden oder auch dem Talmud eine Doppelseite gewidmet wird. Beides stellt sich dem „Sog“ entgegen, das Judentum entweder zu historisieren bzw. auf die Zeitenwende hin zu fokussieren, oder aber – sehr unvermittelt – die bloße Gegenwart jüdischen Lebens darzustellen.

Trutwin, bekannt und anerkannt für seine vorzügliche Bildauswahl, überzeugt auch in dieser Publikation durch einen Sinn für künstlerische Qualität wie die Relevanz und Signifikanz der Motivauswahl. Nur ein Beispiel: Wo die Synagoge als Versammlungsort angesprochen wird, wird das Gemälde vom Innenraum der Osnabrücker Vorkriegssynagoge gezeigt. Er ist typisch für den verbreiteten Typ eines orientalisierenden Stils, wie er vor allem im 19. bis in das 20. Jh. beliebt war. Da es sich um ein Gemälde des ermordeten Felix Nussbaum handelt, wird zugleich die Zerstörung dieser Synagogenkultur implizit mit „eingespielt“. Als Beispiel für das Phänomen eines neuen Synagogenbaus der Gegenwart wird die neue Münchener Synagoge gezeigt, über deren Qualität bereits heute weitgehend Konsens besteht.

Oder: Im Abschnitt "Wo war Gott in Auschwitz?" verzichtet der Autor nicht nur auf den (scheinbar so naheliegenden) Text sowie mögliche Illustrationen des Abschnitts aus Elie Wiesels Nacht, wo ein erhängter Junge als Ort Gottes benannt wird –, einen Text, dessen fast begieriger Rezeption christliche Theologen leider kaum zu widerstehen vermochten. Trutwin bietet das viel sperrigere expressive Bild von Bernhard Heisig mit dem Titel „Aber Gott sieht zu, Herr Offizier“ – zugleich die (letzten?) Worte des dargestellten alten Mannes, der abgeführt wird. Dieses Bild, das angelegt ist, die Betrachter anzusprechen und zu konfrontieren, wird wiederum flankiert durch das Foto der so ruhig, ja ganz still wirkenden Wand in der Pinkas- Synagoge in Prag: Sie trägt in kleiner Schrift die Lebensdaten aller Juden aus Böhmen und Mähren, die ermordet wurden. – Das sind produktive Bildkonstellationen, die ebenso denken und fühlen lassen und beides nicht voneinander trennen.

Der Band ist geschrieben und konzipiert für Schüler der Oberstufe. Aber auch die Unterrichtenden selber dürften für sich persönlichen Gewinn daraus ziehen ebenso wie jeder an der christlich-jüdischen Beziehung Interessierte. Der Band zeigt sich als reife Frucht jahrzehntelanger Beteiligung am christlich-jüdischen Dialog, zu dessen frühesten Akteuren der Autor zählt: schmackhaft, selbstverständlich nicht immer süß, doch nahrhaft.

Paul Petzel, Andernach


Jahrgang 19/2012, Heft 1, S. 54−56.


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