Ein berührendes menschliches Drama, das betroffen macht und empört. "Das Brot der Armut" ist ein Buch gegen das Vergessen und gegen unmenschliche Gewalt, das zeigt, dass jüdische Kultur und jüdisches Leben weiterhin gesteinigt werden.
Mit dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 beginnt für die in Warschau lebende jüdische Familie Kowalski der große Leidensweg. Am Abend des 5. September 1939 trifft die Familie noch einmal zusammen: der Arzt Dr. Kowalski, seine Frau Zelda, seine Schwägerin, seine beiden Brüder, der eine ein Literaturprofessor, der andere Pianist.
Noch ahnt keiner, dass sie sich nie wieder sehen. Die Familie sieht sich bald genötigt, vorübergehend unterzutauchen. Sie beauftragen das deutsche Hausmädchen Ella Schmielek, auf das Haus aufzupassen und mit ihnen in Kontakt zu bleiben, bis alles vorüber ist. Ella stammt aus einer armen deutschen Bauernfamilie. In dem gut betuchten und sozial engagierten Haushalt ist es ihr sehr gut ergangen. Daher hilft sie bereitwillig. Deutsche Soldaten besetzen bald darauf das Haus, unter ihnen auch Friedrich Stach. Während Ella sich in ihn verliebt, wütet die Vernichtungsmaschinerie gegen die jüdische Bevölkerung.
Die Kowalskis sind nicht mehr sicher in ihrem Versteck und wenden sich an Ella. Da sie ohnehin zurück in die Heimat möchte, plant sie, die Kowalskis in einer verlassenen Jagdhütte in der Nähe ihres Elternhauses zu verstecken. Ein steiniger Weg, den die Flüchtenden mit der hochschwangeren Zelda Kowalski zurücklegen. Hilflos muss Kowalski zusehen, wie seine Frau Zelda an den Folgen der Geburt stirbt. Damit das Baby nicht verhungert, entscheidet er sich, das Neugeborene Ella anzuvertrauen. Ausgestattet mit Bargeld, Schmuck, der Geburtsurkunde der kleinen Keren sowie dem Versprechen, im äußersten Fall nach Überlebenden des Kindes zu suchen, kehrt Ella zurück auf den elterlichen Hof. Ellas Vater will das „Judenbalg“ gegen die Wand knallen, doch die Aussicht auf noch mehr Geld von den Kowalskis hält ihn davon ab. Unterdessen werden Kowalski und seine Schwägerin in der Jagdhütte von einer SS-Einheit aufgespürt und barbarisch ermordet.
Der Krieg rückt auch für die Schmieleks näher. Ella flüchtet mit Keren, die sie nun Kriemhild nennt, auf den Hof von Friedrich Stachs Familie. Sie gibt vor, seine Frau zu sein, Kriemhild die Tochter. Viel Glück erfährt sie bei ihrer neuen Verwandtschaft nicht. Nach Kriegsende wird sie bei der russischen Kommandantur denunziert und flüchtet mit Kriemhild in den Westen. Untergebracht in den Baracken eines Flüchtlingslagers beginnt das armselige Leben. Ella erkennt, dass sie als Mutter mit Kind bevorzugt behandelt wird. Sie entschließt sich, Kriemhild offiziell als ihre Tochter auszugeben, und legt sich ihre eigene Vergangenheit zurecht. Neue Papiere geben ihr ein neues Leben und machen aus Keren ihre Tochter Kriemhild. Friedrich Stach gilt als gefallen, Ella als Kriegswitwe.
Als Ella den Schuster Heini kennenlernt, zieht die kleine Familie in eine kleine Stadtwohnung. Einzig die Literatur und die Schule bieten für Kriemhild eine Befreiung aus dieser bedrückenden Enge. Doch sie verlieren die Wohnung und landen wieder in dem armseligen Flüchtlingslager. Ausgegrenzt und abgelehnt als Flüchtling und umgeben von Feindseligkeit und tief sitzenden Ressentiments, wird Kriemhild mal als „Juden- und Zigeunerbalg“ und mal als „Polackin“ beschimpft. Unerträgliche Erniedrigungen setzen sich innerhalb der Familie fort. Kriemhild ist erst sechs Jahre alt, als sich Heini an ihr vergeht – ein mit der Zeit immer brutaler werdendes Martyrium unter den Augen der duldenden Ella. Trotzdem schafft es Kriemhild aufs Gymnasium. Ein anschließendes Studien-Stipendium führt sie zunächst als Au-pair-Mädchen nach Genf.
Wie ein Schlag ins Gesicht dann die Wahrheit über ihre Identität am Abend vor ihrer Abreise. Ihr ganzes Leben, abhängig von unmenschlichem Verhalten und einer Lüge. Zwei Namen, zwei Wahrheiten. Kriemhild, das arme Flüchtlingskind, voller Sehnsucht nach einem anderen Leben, Keren, die nichts ahnende jüdische Vollwaise. Sie begibt sich auf die Suche nach ihrer jüdischen Identität. Erste vorsichtige Berührungen mit dem Judentum erlebt sie während ihres Studiums. Als sie nach Israel emigriert, weiß sie, sie ist angekommen. Ein trügerischer Lichtblick, denn das Unfassbare holt sie auch hier ein.
Rachel Kochawi erzählt die authentische Geschichte eines jüdischen Mädchens, das in den dunkelsten Tagen deutscher Geschichte geboren wird. Verfolgt von den Nazis hat Keren Kowalski als eine der Wenigen die Schoa überlebt. Wie eine offene Wunde, in die immer wieder neue Keime eindringen, bleibt sie aber Zeit ihres Lebens ein Opfer. Die Vernichtungspolitik Hitlers und menschliche asoziale Moral führen dazu, dass sie für Jahrzehnte ein Leben führt, das nicht ihres ist. In der Elendsfalle gibt es keine kindliche Unbeschwertheit. Ein Karussell voller gnadenloser Armut und Gewalt, in Fahrt gehalten durch ein gewissenloses Milieu. Ein Milieu, das sich aus Tätern zusammensetzt, die kein Schuldbewusstsein kennen, ein Milieu, das die Geschichte der Judenfeindschaft und des Judenhasses weiter schreibt. Die Wege aus dieser tiefen Elegie führen nach Israel. Die gefundene Identität kann in einer feindseligen Umgebung jedoch nicht zur Ruhe kommen.
Soraya Levin, Wolfenbüttel
Jahrgang 18/2011, Heft 3, S. 223−225.