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Nathanael Riemer

Zwischen Tradition und Häresie

Mit der vorliegenden Dissertation stellt Nathanael Riemer, Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam, das Werk "Beer Sheva" des Prager Rabbiners Beer Shmuel Issachar Perlhefter und dessen Frau Bella Perlhefter vor. Es handelt sich um ein Werk der „Mussar“-Literatur, das „an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert in jiddischer Sprache verfasst wurde“ und „als Erinnerungs- und Trostbuch [...] den sieben verstorbenen Kindern des Ehepaares gewidmet“ ist (12). Zugleich weist es, wie Riemer bereits im Untertitel seines Bandes verrät, Ähnlichkeiten mit

„mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Enzyklopädien [auf], welche mit universalistischem Anspruch eine systematische Disposition kanonisierter Wissensbereiche darbieten und ihre Informationen in zusammengefasster verständlicher Form präsentieren wollen“ (14).

Es sind neun handschriftliche Fassungen aus drei Redaktionsphasen überliefert; zu der von den Autoren angestrebten Drucklegung des Werkes kam es allerdings nicht.

In einer kurzen Einleitung führt Riemer in die Hintergründe für die Entstehung von "Beer Sheva" sowie unterschiedliche Formen religiöser Bildung in der Frühen Neuzeit ein und beschreibt den Aufbau seiner Untersuchung. Es folgen sieben Großkapitel, die am jeweiligen Schluss in knappen sogenannten „Auswertungen“ zusammengefasst sind. In diesen Großkapiteln behandelt Riemer die Biografien des Autorenehepaars, den Handschriftenbestand, die Anteile von Bella und Beer Perlhefter als Autoren von Beer Sheva, Aufbau und Themen des Werkes, Möglichkeiten einer gattungstheoretischen Einordnung und Beer Perlhefters Messianologie.

Beer Perlhefter (ca. 1650–1713), der sich im Zusammenhang mit der Bewegung um den selbsterklärten Messias Sabbatai Zwi einen Namen machte, entwickelte eine eigene Messianologie, die er in seinen Schriften verbreitete und die er auch in Beer Sheva einfließen ließ. Bella Perlhefter (ca. 1650–1710) initiierte die Niederschrift des Werkes und verfasste das Vorwort. In welchem Umfang sie darüber hinaus als Autorin mitwirkte, ist nicht eindeutig zu klären.

Im Mittelpunkt von Nathanael Riemers formaler und inhaltlicher Untersuchung steht das Manuskript BS/F (Beer Sheva/Frankfurt), das im Unterschied zu den anderen Manuskriptfassungen sowohl vollständig als auch in gutem Zustand erhalten ist.

„Die jiddische Handschrift Beer Sheva ist in sieben Hauptteile untergliedert (Superstruktur). Diese lassen sich in drei Wissensbereiche (Globalstruktur) zusammenfassen: Die Hekhalot des Himmels, des Gehinom sowie des Gan Eden ergeben eine Kosmologie, welche die Weltordnung widerspiegeln möchte (I–II). Dagegen beschreibt die Schilderung der ‚Geschichte Israels’ einschließlich der Erlösung durch die Messiasse eine eschatologisch ausgerichtete Heilsgeschichte (III–VI). Abgeschlossen wird das Werk durch einen Teil, in welchem neben der Buße auch ein umfangreicher Tugendkatalog verhandelt wird und welcher daher als Morallehre bezeichnet werden kann“ (VII) (180).

Das Werk ist durch narrative Texte wie Erzählungen, Gleichnisse, Fabeln, Anekdoten usw. aus der traditionellen jüdischen Literatur ausgeschmückt. Es enthält biografische Elemente, in denen sich das persönliche Schicksal sowie das gesellschaftliche Umfeld des Ehepaares widerspiegeln, und ist „eines der ersten jiddischen Werke, welches längere kabbalistische Passagen des Sohar in der Kultur- und Verkehrssprache des aschkenasischen Judentums zugänglich macht“ (279).

Riemer unternimmt eine gattungstheoretische Einordnung, indem er verschiedene Formen der Mussar-Literatur und Gattungen der europäischen Literatur definiert und auf Beer Sheva zu übertragen versucht. Aufgrund der größten Übereinstimmungen plädiert Riemer für die Einordnung als „Enzyklopädie, welche als Populärenzyklopädie jüdisches Wissen für ein breites Publikum zugänglich machen möchte“ (216).

Für diese Form der Wissensvermittlung übernimmt Perlhefter „in Beer Sheva einen großen Teil der sabbatianischen Theologie, welche er in seiner Zeit im Lehrhaus von Abraham Rovigo entwickelte und in verschiedenen Traktaten verbreitete“ (270).

„Während Perlhefter seine sabbatianischen Traktate an Anhänger der Bewegung richtet, möchte er den Leser durch die Lektüre seiner enzyklopädischen Heilsgeschichte davon überzeugen, dass jeder Einzelne zum Gelingen der Erlösung beitragen muss“ (271).

An eine Übersicht über Perlhefters Quellen und das Schlusskapitel schließen sich ein 55 Seiten umfassendes Literaturverzeichnis und eine englischsprachige Zusammenfassung an.

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die gründliche Untersuchung eines Werkes, dessen Existenz bisher so gut wie unbekannt war und dessen Bedeutung für die Erforschung des aschkenasischen Judentums wie auch für die jiddische Philologie weitgehend unbeachtet blieb. Anhand zahlreicher Zitate in deutscher Übersetzung verschafft Nathanael Riemer dem Rezipienten einen detaillierten Einblick in das Werk Beer Sheva und ordnet es aus religionswissenschaftlicher Perspektive in die Kultur des frühneuzeitlichen Judentums ein. Dabei empfiehlt es sich, die Lektüre der einzelnen Kapitel mit den „Auswertungen“ bzw. Zusammenfassungen am jeweiligen Kapitelende zu beginnen, da diese oft mehr einführenden als verarbeitenden Charakter haben. Ebenso kann das Schlusskapitel mit seiner gelungenen allgemeineren Beschreibung von Beer Sheva zu Beginn gelesen werden.

Für das philologisch interessierte Publikum, das sich gründlicher mit diesem wichtigen Zeugnis jiddischsprachiger Literatur auseinandersetzen möchte, sei darauf hingewiesen, dass Nathanael Riemer und Sigrid Senkbeil eine Edition des Werkes Beer Sheva vorbereiten, die demnächst ebenfalls in der Reihe „Jüdische Kultur“ bei Harrassowitz erscheinen wird.

Jutta Schumacher, Luxembourg


Jahrgang 19/2012, Heft 1, S. 66−68.


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