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Maurice Friedman

Martin Buber und Emmanuel Lévinas

Eine ethische Fragestellung

Martin Buber mit Emmanuel Lévinas zu vergleichen, ist unwiderstehlich. Beide sind fest im Judentum verankert. Beide haben als Philosophen mit der Philosophie von Plato bis Heidegger gebrochen zugunsten einer radikalen Beziehung zur Andersartigkeit, zur Alterität. Beide beschäftigen sich in zentraler Weise mit Ethik. Beide verknüpfen die Beziehung zu Gott mit der Beziehung zu den Mitmenschen. Beide sind Denker des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus zeichnen sich wichtige Unterschiede ab. Buber ist sowohl ein "Maskil", der sich mit Erleuchtung befaßt, als auch ein moderner "Chassid", offen für Mystik und Mythos. Lévinas dagegen ist ein moderner "Mitnagid", ein traditioneller Gegner des Chassidismus. Mystizismus und Mythos weist er als Vielgötterei zurück. Er ist in der Bibel, wie er sie sieht, verwurzelt, d. h. in ihren moralischen Geboten und Gesetzen und im Talmud. Buber ist in der Bibel als dem Bund zwischen Gott und seinem Volk verwurzelt, durch den das Königreich Gottes in der Geschichte in einer Gesellschaft, in der Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit, Liebe und Güte herrschen, verwirklicht werden will.

Die Unterschiede in der Philosophie von Lévinas und Buber

Lévinas, ein Philosoph der Philosophen, konstruierte eine vollständige Philosophie und Phänomenologie. Der Kern von Bubers Denken waren philosophische Einsichten, die er mit philosophischer Folgerichtigkeit ausarbeitete und illustrierte. Buber konstruierte weder eine systematische Philosophie noch eine Phänomenologie. Laut Andrew Tallon initiierte Buber eine Revolution in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts, aber er führte sie nicht zu Ende. Lévinas schrieb in seinem letzten Kommentar zu Buber:

„Die Wertschätzung der dialogischen Beziehung und ihrer phänomenologischen Nicht-Reduzierbarkeit, ihre Tauglichkeit, eine sinnvolle Ordnung zu konstituieren, die autonom ist und ebenso legitim wie die traditionelle und privilegierte Subjekt-Objekt Korrelation in der Operation des Wissens – das wird der unvergeßliche Beitrag von Martin Bubers philosophischen Anstrengungen bleiben.“1

In „Antworten an meine Kritiker“ äußert sich Buber selbst zu dem Vorwurf, daß er keine systematische Philosophie anbietet:

„Seit ich zu einem Leben aus eigener Erfahrung gereift bin, [...] habe ich unter Pflicht gestanden, den Zusammenhang der damals gemachten entscheidenden Erfahrungen ins menschliche Denkgut einzufügen, aber nicht als meine Erfahrungen, sondern als eine für andere und auch für andersartige Menschen gültige und wichtige Einsicht.

Da ich aber keine Botschaft empfangen habe, die solcherweise weiterzugeben wäre, sondern eben nur Erfahrungen gemacht und Einsicht gewonnen habe, mußte meine Mitteilung eine philosophische sein [...] ich mußte aus dem "Ich-Du" und als "Ich-Du Erfahrenen" ein "Es" machen.

Ich bin überzeugt, daß es allen von mir geliebten und verehrten Philosophen nicht anders ergangen ist. Nur daß sie sich, nachdem sie die Transformation vollzogen hatten, der Philosophie tiefer und völliger ergaben als ich es vermochte oder als es mir gestattet war [...]. Ein System wird daraus [...] nicht werden, wohl aber ein in sich schlüssiger Denkzusammenhang.“2

Buber hat die Philosophie von Lévinas nie kommentiert. Lévinas dagegen machte in seiner Kritik Buber zum Gegenstück seines eigenen Denkens. Aber viele Philosophen haben über Buber und Lévinas geschrieben. Manche haben versucht, beider Denken zu versöhnen. Andere kritisierten Buber von Lévinas’ Standpunkt aus oder haben Buber gegen Lévinas’ Kritiken verteidigt, indem sie sie als Mißinterpretationen von Bubers Denken auswiesen.

Der schärfste Kritiker nannte Bubers "Zwischenmenschliches" „leer und seicht”. Der britische Philosoph Robert Bernasconi3 hat erfolglos versucht, in einem Aufsatz Buber und Lévinas zu versöhnen, negierte aber Lévinas’ Vorschlag, Bubers Werke selbst zu lesen. Neve Gordon dagegen schreibt:

„Erst nachdem man mit Bubers Ideen gerungen hat, nachdem man seine Einsichten verstanden hat, ist es angemessen, ... seine Ideen zu kritisieren und zu erweitern.”4

Die schwächste Kritik Lévinas’ ist der Vorwurf des „Formalismus”. Lévinas ist der Auffassung, daß für Buber die "Ich-Du-Beziehung" reversibel und inhaltslos sei. Darauf entgegnete Buber:

„Es ist falsch [...] zu sagen, daß die Begegnung reversibel ist. Weder ist mein "Du" mit dem "Ich" des anderen identisch, noch sein "Du" mit meinem "Ich". Der Person des Anderen verdanke ich die Tatsache, daß ich dieses "Du" habe, aber mein "Ich" [...] verdanke ich dem "Du-Sagen", nicht der Person, zu der ich "Du" sage.“5

Martin buber 

Martin Buber.
Foto: Martin Buber-Gesell-schaft, Heidelberg.

Zu dem Vorwurf der Inhaltslosigkeit der "Ich-Du" Beziehung nahm Buber in einer Antwort an den israelischen Philosophen Natan Rotenstreich Stellung:

„Es ist für mich von höchster Wichtigkeit, daß der Dialog einen Gehalt habe; nur, daß dieser Gehalt um so wichtiger ist, je konkreter, je konkretisierender er ist, je mehr er dem Einmaligen, dem sich Ereignenden, dem Gestalthaften gerecht wird und auch das Geistigste ihm einzuverleiben vermag, nicht metaphorisch sondern realiter, weil der Geist den Leib sucht und sich von Sprache helfen läßt, ihn zu finden.“6

Lévinas‘ beharrlichste Kritik ist verknüpft mit seiner eigenen Behauptung, daß die Beziehung zum Anderen asymmetrisch sein muß. Dementsprechend tritt der Mensch zum Anderen wie zu einem Höheren in Beziehung, selbst wenn in ihm durch diese Begegnung die Verantwortung für den Anderen, der seiner Hilfe bedarf, geweckt wird.

Hier geht es um einen Kernpunkt in der Ethik von Buber und von Lévinas. Lévinas mißversteht daraus Buber dahingehend, daß dieser eine "Ich-Du-Beziehung" als eine Art Herausgehobensein zweier Personen fordert, die jede Beschäftigung mit anderen Menschen ausschließt. Bubers Antwort spricht für sich selbst:

„Lévinas irrt auf merkwürdige Weise, wenn er annimmt, daß ich in der amiteé toute spirituelle den Höhepunkt der 'Ich-Du' Beziehung sehe. Im Gegenteil, diese Beziehung scheint mir ihre wahre Größe und Kraft da zu gewinnen, wo zwei Menschen ohne starke gemeinsame geistige Grundlage, sogar von sehr unterschiedlicher Geistesart, ja von gegensätzlicher Disposition, einander so gegenüberstehen, daß jeder den anderen, selbst im schärfsten Konflikt, kennt und meint, wiedererkennt und anerkennt, akzeptiert und bestätigt als diese besondere Person. In der gemeinsamen Situation, auch in der gemeinsamen Situation des Widerstreits miteinander, vergegenwärtigt er sich selbst die Seite des Anderen, sein Erfahren, sein Durchleben dieser Situation.

Dies ist nicht Freundschaft, dies ist nur die Kameradschaft der menschlichen Kreatur, eine Kameradschaft, die Erfüllung gefunden hat. Kein ,Äther’, wie Lévinas meint, sondern der harte menschliche Boden, das Gemeinschaftliche im Nicht-Gemeinsamen [...] mag den Hungrigen Kleidung und Nahrung geben, solange er will, dennoch wird es ihm schwer bleiben, ein wirkliches 'Du' zu sprechen. Wenn alle genug Kleidung und Nahrung hätten, dann würde das wirkliche ethische Problem zum ersten Mal vollständig sichtbar.“7

Emmanuel Lvinas 

Emmanuel Lévinas.
Foto: Louis Monier.

Anders als Lévinas konnte Buber das Ethische nicht in äußerlichen Handlungen – den Hungrigen Nahrung und den Nackten Kleidung zu geben – begründen, sondern in der Beziehung, aus der solche Handlungen erwachsen.8

Lévinas schien zu befürchten, daß die "Ich-Du" Beziehung auf einer rein geistigen Ebene bleiben würde, wenn sie nicht mit ethischen Handlungen beginnt, wie sie die Bibel und der Talmud ausdrücklich befehlen. Bubers Sichtweise ist aber ganz anders:

„Es ist nicht wahr, daß ich die Reziprozität der Beziehung ,unablässig behaupte’ [...]. Asymmetrie ist nur eine der Möglichkeiten der 'Ich-Du' Beziehung, nicht die Regel, genauso wie Gegenseitigkeit in all ihren Abstufungen nicht als die Regel betrachtet werden kann. In vollständigem Ernst verstanden, würde die Asymmetrie, die die Beziehung auf eine Beziehung zu einem Höheren begrenzen möchte, sie vollständig einseitig machen: Liebe wäre entweder naturhaft unerwidert oder jede bzw. jeder der beiden Liebenden müßte an der Wirklichkeit des oder der Anderen vorbeigehen.

Selbst als Grundlage einer Ethik kann ich ,Asymmetrie’ nicht anerkennen. Ich lebe ,ethisch’, wenn ich mein 'Du' in all seiner oder ihrer Andersartigkeit im Recht seiner oder ihrer Existenz und im Ziel seines bzw. ihres Werdens bestätige und fördere. Ethik befiehlt mir nicht, ihn oder sie als mir durch seine oder ihre Andersartigkeit überlegen zu betrachten und zu behandeln.

Ich finde übrigens, daß unsere Beziehung zu den Haustieren, mit denen wir leben und selbst den Pflanzen in unserem Garten korrekterweise als die unterste Ebene unseres ethischen Gebäudes eingeschlossen ist. Der Chassid sieht den Anfang sogar bei den Arbeitsgerätschaften. Und sollte es nicht auch eine Ethik für die Beziehung zu sich selbst geben?“9

Lévinas sieht die Grundlage für Gerechtigkeit in der Tatsache, daß eine dritte Person existiert, die mich und den Anderen als Personen sieht, die es wert sind, zu bekommen, was ihnen zusteht. Dies hat Lévinas und seine Anhänger zu der merkwürdigen Vorstellung geführt, daß für Buber Gerechtigkeit nur innerhalb der "Ich-Du-Beziehung" liegt und daß es weder ein Wir noch eine Gemeinschaft gäbe, die in Betracht gezogen werden müssen. Tatsächlich sollten für Buber Dialog und Liebe die direkten zwischenmenschlichen Beziehungen regieren, Gerechtigkeit die indirekten Beziehungen.10

Buber stellt nicht nur dem "essentiellen Du" ausdrücklich ein "essentielles Wir" an die Seite. Anders als Lévinas bietet er eine ausgearbeitete soziale und politische Philosophie, in der er zwischen dem "politischen" und dem "sozialen Prinzip" unterscheidet, eine Unterscheidung, die man sich in Lévinas’ abstrakten und vereinfachten Formulierungen nie hätte vorstellen können.

Lévinas, der nicht erkennt, was Buber „die gebende Seite der Dinge” nannte, die uns entgegen kommt, wenn wir uns ihnen mit Hingabe zuneigen, schreibt Bubers Konzept der "Ich-Du-Beziehung" zu Tieren und Pflanzen dessen künstlerischer Natur zu. Wäre dem so, würde dies die Ernsthaftigkeit von Bubers ethischem Ansatz schwächen. Dem ist entgegenzusetzen, daß niemand der Ethik ernsthafter gegenüberstand als Buber.

„Wenn jemand zu dir kommt und dich um Hilfe bittet, sollst du ihn nicht mit frommen Worten fortschicken und sagen: ‚Glaube und trage deinen Kummer zu Gott!‘ Du sollst dich verhalten, als gäbe es keinen Gott, als gäbe es nur eine Person auf der ganzen Welt, die diesem Menschen helfen könnte, – nur dich selbst.”11

Die Quellen moralischen Sollens

„Warum sollte ich etwas tun oder nicht tun?” Für Lévinas ist das menschliche Gesicht, das eine Spur der Unendlichkeit in sich birgt, die Quelle des moralischen Sollens. Das Gesicht erhebt einen Anspruch auf uns vor jeglichem moralischen Urteil oder vor eingeprägten Werten. Es ist ein unspezifischer Anspruch, der aus der radikalen Andersheit des Anderen hervorgeht und aus dem direkten Wissen über seine Verletzbarkeit und Sterblichkeit. Aus ihm kommt in unvermittelter Form der Befehl „Du sollst nicht töten.”

Auch für Buber ist die Quelle des moralischen Sollens die unvermittelte Antwort auf das, was uns anspricht. Bubers "Ontologie des Zwischen" ist nicht die Totalität des Seins, die die Philosophie von Plato bis Sartre dominiert hat. Es ist das „wirklich Wirkliche”, der „Prüfstein der Wirklichkeit”. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung!”

Die Quelle moralischen Sollens ist somit sowohl für Buber wie für Lévinas die Begegnung von Person zu Person. Aber es gibt, wie Lévinas aufgezeigt hat, wichtige Unterschiede. „Ich habe versucht, mich gegen die 'Ich-Du'-Kollektivität zu wenden”, schreibt Lévinas, weist aber sofort darauf hin, nicht in Bubers Sinn der Reziprozität, „wo der unentrinnbare Charakter der isolierten Subjektivität unterschätzt wird.”

Es ist gut möglich, daß Lévinas die zwei Grundbewegungen der Distanzierung und Beziehung, die Bubers "Ich-Du-Beziehung" zugrunde liegen, nicht versteht. Vermutlich mißversteht er auch die Betonung der Gegenüberheitlichkeit, die Buber veranlaßte, „Dialog” als Öffnung des Selbst für die Andersheit des Anderen zu definieren, im „Monolog” dagegen den Anderen als Inhalt der eigenen Erfahrungen sieht.

Dennoch ist hier ein tatsächlicher Unterschied erkennbar. Anstatt von der "Ich-Du-Beziehung" spricht Lévinas vom "Ich-Sie" und er gebraucht wiederholt den Begriff "Illeität"12, um auf die transzendente Unendlichkeit zu verweisen. Buber vermeidet diese Art der Fusion der Horizonte. Selbst Übereinstimmung charakterisierte Buber als eine Mischung aus Verstehen und Mißverstehen, und hielt so immer die Spannung zwischen den beiden Beziehungspartnern aufrecht. In seinem Dialog mit Kierkegaard („Die Frage an den Einzelnen“) schrieb Buber von der Notwendigkeit der Einsamkeit, wenn wir uns nicht in der Unendlichkeit verlieren wollen.

Auch in "Ich und Du" spricht Buber von der Notwendigkeit der Einsamkeit, ohne sie zum Ziel oder zur Lebensart zu machen. Aber er schrieb der "Ich-Du-Beziehung" keine „unentrinnbare Einsamkeit” zu, wie Lévinas das tut. In Bubers "Ich-Du-Beziehung" sind somit bei weitem mehr ethische Möglichkeiten enthalten als in Lévinas‘ Moralphilosophie. Aus diesem Grund entgegnete Buber auf die Kritik Lévinas’: „Wenn alle genährt und gekleidet sind, dann sind wir gerade am Beginn des eigentlichen ethischen Problems.”

Reinheit der Ethik

Auf den Vorwurf des amerikanischen Moralphilosophen Marvin Fox, daß er [Buber] ein moralischer Relativist sei, antwortete Buber, daß er ethische Gebote wie „Ehre Vater und Mutter” für absolut hält. Aber, so fügte er in seinen Antworten an meine Kritiker hinzu, „jemand der im Vorhinein weiß, was das in der jeweiligen Situation bedeutet, der weiß nicht, wovon er spricht”.

In „Religion und Ethik” äußert sich Buber noch deutlicher:

„Wir erfassen das Ethische in seiner Reinheit nur da, wo die menschliche Person sich mit ihrer eigenen Möglichkeit konfrontiert und innerhalb ihrer scheidet und entscheidet, ohne nach anderem zu fragen, als was jetzt und hier, in dieser ihrer eigenen Situation das Rechte und was das Unrechte ist. Das Kriterium, nach dem jeweils diese Scheidung und Entscheidung geschieht, mag ein Überkommenes oder ein der menschlichen Person selber, die sie vollzieht, einsichtig oder offenbar Gewordenes sein: es geht darum, daß die kritische, die erst erhellende, dann brennende und läuternde Flamme immer neu aus der Tiefe schlage.“13

In "Samuel und Agag" erzählt Buber von einer Begegnung mit einem strenggläubigen Juden, mit dem er jene Passage des Samuelbuches diskutiert, in der Saul Agag, den Prinzen der Amalekiter, die Saul gerade besiegt hatte, an Samuel ausliefert. Buber erzählte seinem Reisegenossen, daß es ihn als Kind davor graute, wie Agag zu Samuel sagte, „Sei‘s drum, schon wich des Todes Bitterkeit”, und Samuel ihn dann in Stücke zerhaute. Buber gestand, daß er nicht glauben konnte, daß dies eine Botschaft Gottes war. Sein Partner runzelte ärgerlich die Stirn und fragte: „Was glauben Sie also?” Buber antwortete: „Ich glaube, daß Samuel Gott mißverstanden hat.” Die ärgerliche Miene seines Gefährten glättete sich, die Augen blickten sanft und strahlend und er sagte: „Das meine ich auch.”

„Gott gibt den erschaffenen Menschen den Nöten und Ängsten nicht preis”, reflektierte Buber später.

„Er leiht ihm den Beistand seines Wortes, er spricht zu ihm, er spricht sein Wort ihm zu. Der Mensch aber horcht nicht getreuen Ohrs auf das ihm Zugesprochene, er vermengt schon im Hören Himmelsgebot und Erdensatzung miteinander, Offenbarung des Seienden und die Orientierung, die er sich selber zurechtmacht [...]. Wir haben kein objektives Kriterium für die Scheidung, wir haben einzig den Glauben, – wenn wir ihn haben. Nichts kann mich an einen Gott glauben machen, der Saul bestraft, weil er seinen Feind nicht ermordet hat.

Und doch kann ich auch heute noch den Abschnitt, der dies erzählt, nicht anders als mit Furcht und Zittern lesen. Aber nicht ihn allein. Immer, wenn ich einen biblischen Text zu übertragen oder zu interpretieren habe, tue ich es mit Furcht und Zittern, in einem unentrinnbaren Schweben zwischen dem Wort Gottes und den Wörtern der Menschen.“14

Lévinas Antwort auf Bubers "Samuel und Agag" bestätigt den Gegensatz zwischen ihm und Buber:

„Fraglos denkt Buber, daß sein Gewissen ihn Gottes Willen besser wissen läßt als die Bücher [...]. Ich glaube weiterhin, daß man ohne äußerste Aufmerksamkeit für das Buch der Bücher nicht in der Lage ist, das eigene Gewissen zu hören. Buber hat hier nicht an Auschwitz gedacht.”15

Daß Lévinas Bubers „äußerste Aufmerksamkeit für das Buch der Bücher” in Frage stellt, erscheint seltsam angesichts der Tatsache, daß Buber einen großen Teil seines Lebens damit verbracht hat, die hebräische Bibel ins Deutsche zu übersetzen. Noch seltsamer ist Lévinas‘ Aussage, daß Buber nicht an Auschwitz gedacht habe. Zu mir persönlich sagte Buber: „Es gibt nicht eine Stunde, wo ich nicht daran denke”.

Von der Begegnung zwischen Samuel und Agag will Lévinas zu einem dritten personalen Konzept von Gerechtigkeit führen. Wenn Lévinas Bubers Bezug zum Gewissen in Frage stellt, stuft er dessen „Nichts kann mich an einen Gott glauben machen, der Saul bestraft, weil er seinen Feind nicht ermorden wollte” als eine Subjektivität Bubers ein und ignoriert seine fortwährende Haltung des Lauschens auf Gottes Wort. Lévinas scheint in diesem Fall die Quelle des moralischen Sollens kritiklos in der Tradition zu finden.

Lévinas zitierte gerne Dostojewskiy: „Wir sind alle an allem schuldig und ich mehr als jeder andere.” Besser erscheinen mir Dostojewskiys Wort: „Jeder ist für alle verantwortlich”, und Abraham Joshua Heschels Aussage: „Nicht alle sind schuldig, aber alle sind verantwortlich.” Ich ziehe auch Bubers Verständnis von der existentiellen Schuld vor: einer Schuld, die man als Person auf sich genommen hat und die die Ordnung des Seins verletzt.16

"Der Mensch ist so erschaffen, daß er verstehen kann, aber nicht verstehen muß, was Gott ihm sagt. Gott gibt den erschaffenen Menschen den Nöten und Ängsten nicht preis, er leiht ihm den Beistand seines Worts, er spricht zu ihm, er spricht sein Wort ihm zu.

"Der Mensch ist so erschaffen, daß er verstehen kann, aber nicht verstehen muß, was Gott ihm sagt. Gott gibt den erschaffenen Menschen den Nöten und Ängsten nicht preis, er leiht ihm den Beistand seines Worts, er spricht zu ihm, er spricht sein Wort ihm zu.

Der Mensch aber hört nicht getreuen Ohrs auf das ihm Zugesprochene, er vermengt schon im Hören Himmelsgebot und Erdensatzung miteinander, Offenbarung des Seienden und die Orientierungen, die er sich selber zurechtmacht. Von diesem Tatbestand sind auch die heiligen Schriften der Menschen nicht ausgenommen, auch die Bibel ist es nicht."

Martin Buber, in: Begegnungen, Samuel und Agag, Stuttgart 1960,44–47, hier 46.


Dr. Maurice Stanley Friedman ist Professor em. für Religionswissenschaft, Philosophie und Vergleichende Literatur der San Diego State University, Kalifornien (1973–1991). Er lehrte an zahlreichen weiteren Universitäten und Institutionen und erhielt 1985 den Jewish National Book Award für sein dreibändiges Werk „Martin Buber’s Life and Work“. (Übersetzt aus dem Amerikanischen von Rosemarie
Graf-Taylor, Heidelberg)
  1. Emmanuel Lévinas, Outside the Subject, trans. by Michael Smith, Stanford University Press, Stanford CA 1994,Chap. 3: Apropos of Buber: Some Notes, 41 f.
  2. Paul Arthur Schilpp/Maurice Friedman (Hg.), Martin Buber, in: Philosophen des 20. Jahrhunderts, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1963. Martin Buber, Antwort, 589−590.
  3. Robert Bernasconi, ‚Failure of Communication' as a Surplus: Dialogue and Lack of Dialogue between Buber and Lévinas, in: Robert Bernasconi/David Wood (Hg.), The Provocation of Lévinas: Rethinking the Other, Routledge, London and New York 1988, 124.
  4. Neve Gordon, Ethics as Reciprocity: An Analysis of Lévinas's Reading of Buber, ein unveröffentlichter Aufsatz, der in einem von M. Friedman und Peter Atterton herausgegebenen Buch über Buber und Lévinas enthalten sein wird.
  5. Buber, Antwort (Anm. 2).
  6. Buber, Antwort, 595−596.
  7. Sidney und Beatrice Rome (Hg.), Philosophical Interrogations, Holt, Rinehart & Winston, New York 1964.
  8. M. Friedmann, Die Grundlagen von Bubers Ethik, in: Die Philosophen des 20. Jahrhunderts, Band: Martin Buber.
  9. Sidney und Beatrice Rome (Hg.), Philosophical Interrogations (Anm. 7) 27 f.
  10. Vgl. Martin Buber, Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung. Mit einem Nachwort herausgegeben von Abraham Schapira, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1985, sowie die relevanten Kapitel in: Maurice Friedman, Martin Buber's Life and Work, E. P. Dutton, New York 1982, 1983, 1984.
  11. Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Manesse Verlag, Zürich 1984; Die gute Gottesleugnung, 538 f.
  12. Illeität meint ein "Sich-Loslösen des Unendlichen vom Denken, das es zu thematisieren sucht"; vgl. Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, Montpellier 1982, 81.
  13. Martin Buber, Werke, Bd. 1: Schriften zur Philosophie, Kösel Verlag, München; Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1962, 575.
  14. Martin Buber Band, Philosophen des 20. Jahrhunderts (Anm. 8), 28.
  15. Francoise Poiné, Emmanuel Lévinas, qui êtes vous?, Paris 1987.
  16. Anm. d. Red.: Vgl. dazu Das menschliche Handeln und seine Problematik. Eine Aussprache zwischen Martin Buber und Emil Brunner (1928), mit einem Vorwort von Bernhard Casper, in: FrRu 6(1999)23−53.

Jahrgang 8/2001, Heft 2, S. 94−102.


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