Betrachtungen einer Soziologin über Auschwitz
Während Viktor Frankl bereits 1947 seinen bekannten Erfahrungsbericht „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager" veröffentlichte und damit seinen subjektiven Widerstand gegen das Grauen nacherzählte, brauchte die Soziologin Anna Pawelczynska fast drei Jahrzehnte, bevor sie ihre Aufzeichnungen 1973 in Polen veröffentlichte.
„Erst die Perspektive historischer Distanz, langes Nachdenken und die Ruhe des näherkommenden Alters ermöglichen, das Konzentrationslager in objektiven Kategorien zu betrachten” (13).
Für die Autorin, die von August 1942 bis April 1945 im Gefängnis Pawiak, im KZ Auschwitz (Häftlingsnummer 44764) und im KZ Flossenburg (Häftlingsnummer 58642) inhaftiert war, ist die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
„nicht allein ein Drama der Häftlinge der Lager und der [...] okkupierten Länder, sondern ebenso des durch ein degeneriertes Herrschaftssystem moralisch zugrundegerichteten deutschen Volkes”.
Das Lagergeschehen und die Lagerordnung von Auschwitz werden leidenschaftslos in einer Art wissenschaftlicher „Führung” umfassend geschildert und analysiert. Alles erscheint wie die Realisierung eines Alptraums, der schon vor dem historischen Geschehen sensible Menschen heimgesucht hat. Das Wort Pascals, daß „der Mensch den Menschen unendlich übersteigt”, bekommt angesichts der Dimension des Verbrechens eine neue Bedeutung (so der Psychiater A. Kepinski). Angesichts des „sozialen Experimentes” (208) des Konzentrationslagers mit seinen verheerenden moralischer Folgen für die Häftlinge verweist die Autorin auf objektive Werte, die die Selbstbehauptung unter diesen Bedingungen ermöglichen können (223 ff.). Auch gewohnte Kategorien von Recht und Gerechtigkeit wurden in Auschwitz gesprengt.
„Der anonymen Masse, an der das Verbrechen des Völkermordes verübt wurde, kann nur die anonyme Masse der das Verbrechen verübenden Täter gegenübergestellt werden. Das Leiden und Sterben des Menschen wurde seiner individuellen Würde beraubt, und die individuelle Tatverantwortung für ein durch einen Menschen verübtes Verbrechen wurde aufgehoben” (239).
Anna Pawelczynska weist auf die unterschiedliche Wahrnehmung des Naziterrors in West- und Osteuropa hin und auf das Unverständnis für die polnische Situation. Die deutsch-russischen Besetzer vernichteten viele Dokumente, die die Ermordungen zahlenmäßig nachgewiesen hätten. Deshalb muß um so dringender
„in der ganzen Welt der Kampf um eine solidarische Haltung und um die vollständige gesellschaftliche Verurteilung aller Täter von Kriegsverbrechen und ihrer ideologischen Nachfolger fortgesetzt werden” (16).
Die Ausführungen sind besonders jungen Leserinnen und Lesern zum Nachdenken empfohlen, denn „jede Generation muß selbst ihre Ziele bestimmen und die zu ihrer Realisierung führenden Wege abstecken” (245). Bedauerlich ist, daß das hervorragend edierte und mit wissenschaftlichem Apparat versehene Werk nur beim staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau erhältlich ist.
Stefan Hartmann, Oberhaid
Jahrgang 8 / 2001 Heft 4 S. 304 f.