Die Juden in den Pauluskommentaren des 9. Jahrhunderts
Der Autor hat in vielerlei Hinsicht Neuland betreten. Neu ist der Ansatz, aus den Pauluskommentaren des genannten Jh. Informationen zu gewinnen über die christliche Wahrnehmung der Juden ebenso wie über deren tatsächliche Lebenssituation im Kontext der Autoren der Kommentare. J. Heil befreit die theologischen Schriftsteller von dem Urteil, sie seien nur mehr oder weniger geschickte Kompilatoren gewesen, die an Einfalls- und Geistlosigkeit litten. Männer wie Claudius von Turin (225 ff.) und Haimo von Auxerre (275 ff.) waren sehr wohl in der Lage, theologisch innovativ zu arbeiten. Sie hatten auch keineswegs Scheu, Literatur zu benützen, die allgemein als häretisch galt.
Da die Auslegungsgeschichte sich primär den Synoptikern zuwendet, hat Heil mit seiner Untersuchung eine empfindliche Lücke geschlossen und nochmals daran erinnert, wie dringend aus theologiegeschichtlicher und kulturgeschichtlicher Sicht eine Gesamtdarstellung der westlichen Paulusrezeption bis zur Reformation ist.
Weiterhin vermag Heil auch eine These ernsthaft in Frage zu stellen, die sich einiger Beliebtheit erfreut: daß die karolingische Epoche ein goldenes Jahrhundert des europäischen Judentums sei. Es mag sein, daß die Vehemenz der Judenfeindschaft eines Agobard von Lyon (um 769−840) auffällig war; seine theologische Fundierung war es gewiß nicht. Übrigens trägt der Autor dazu bei, den vielmeinenden und damit letztendlich nichtssagenden Begriff „Wirkungsgeschichte“ zu entzaubern. Seine Untersuchung belegt überaus eindrücklich, daß die Behauptung, von einem Text gehe eine direkte Wirkung auf gesellschaftliche Kontexte aus, letztendlich über eine Vermutung nicht hinausreicht.
Im ersten Teil der Untersuchung (Rahmenbedingungen) wird eine historische Verortung der Texte und ihrer Autoren vorgenommen. Die Frage, ob die Autoren überhaupt Kontakt mit Juden haben konnten, wird durch demographische Analysen beantwortet. Danach waren die jüdischen Siedlungen im betreffenden europäischen Raum nicht so breit gestreut, daß man eine persönliche Kenntnisnahme bei allen Autoren voraussetzen dürfte. Damit fällt freilich auch ein Erklärungsmodell des Antijudaismus aus, das davon ausgeht, es habe eine direkte aktuelle Konfrontation gegeben, die die jeweilige Judenfeindschaft geprägt oder gar begründet habe. Weiterhin werden in diesem Teil die theologischen und literarischen Voraussetzungen der Schriftsteller vorgestellt.
Der zweite Hauptteil stellt die Standpunkte der Autoren zu bestimmten biblischen Themenfeldern zusammen, die für die Wahrnehmung von Juden durch Christen von besonderer Bedeutung sind. Neben den beachtenswerten Bemerkungen zum Prädestinationsstreit und zum Heilsplan ist hier das Wissen vom Judentum in den Pauluskommentaren hervorzuheben. Anders als noch bei den christlichen Autoren der Spätantike ist bei den Autoren des 9. Jh. ein geringes Interesse über das reale Judentum festzustellen. Selbst das ihnen durch die Tradition zugängliche Material wird kaum genutzt; als wollten sie ihr Bild von den Juden nicht durch die Realität beeinflussen lassen.
Mit dem etwas unklaren Begriff „Textanlagen" bezeichnet der Autor im dritten Hauptteil seine umfangreichen synchronen und diachronen Interpretationen verschiedener Texte der mittelalterlichen Autoren. Es gelingt ihm, Abhängigkeiten und innovative Aspekte durch einen synoptischen Vergleich aufzuweisen. Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, wollte man alle Ergebnisse aufzählen. Gewiß ist aber, daß an den von J. Heil gewonnenen grundlegenden Erkenntnissen eine zukünftige Untersuchung der betreffenden Autoren nicht vorbeige hen kann. Als eine besondere Leistung ist das Unterkapitel zu Haimo von Auxerre zu bewerten. Es beweist auf das Schönste, daß Geschichtsschreibung auch etwas mit der Fähigkeit, schreiben zu können, zu tun hat.
Hinsichtlich der Darstellung von Juden in den Pauluskommentaren ist eine „Verdichtung judenfeindlicher Motive in der karolingischen Exegese“ (376) feststellbar. J. Heil kann die These eines monokausalen Zusammenhangs mit aktuellen Ereignissen als Entstehungsgrund ausschließen. Es zeigt sich, daß der theologische Antijudaismus auch dieser Epoche primär binnenbezogen ist und stabilisierend wirken soll:
„Wir haben zu vergegenwärtigen, daß diese Entwicklung sich just in jener Zeit vollzog, als die Durchdringung aller Gruppen der Gesellschaft mit dem Ideal der christlichen Lebensführung nicht mehr nur Absicht, sondern Programm war, zu dessen Umsetzung enorme Anstrengungen unternommen wurden“ (380).
Die „Juden“ sind Imaginisierte, Konstruierte, die sich nicht der Wirklichkeit verdanken, sondern der Intention der Autoren. Das Judentum der Kommentare war nicht das erlebbare Judentum, sondern das imaginisierte Judentum, das durch tradierte und erneuerte Polemik akzentuiert war.
Dem Textteil folgen umfassende Anhänge. Sie weisen u. a. Handschriften nach, bieten ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis und Indizes. Die Arbeit ist eine Bereicherung in jeder Hinsicht, aber unverzichtbar für die Geschichte der christlichen antijüdischen Vorurteile. Sie belegt, daß die Erforschung dieser Geschichte genauester Arbeit bedarf, wenn sie denn wirklich aufklären will. In Zeiten, in denen wohlfeile Apologetik des Christentums und Vorwürfe des Pan-Antisemitismus gegen die Kirche sich abwechseln, erbringt sie den notwendigen Erweis, daß das Thema viel zu ernst ist, um darüber leichtfertig zu urteilen.
Rainer Kampling, Berlin
Jahrgang 9 / 2002 Heft 3 S. 215−217.