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Martin Krapf

Kein Stein bleibt auf dem anderen

Die christliche Schuld am Antisemitismus

Kann man die christliche Schuld am Antisemitismus so pauschal (Untertitel) behaupten? Man kann! Martin Krapf, lutherischer Gemeindepfarrer i. R., ignoriert weder den vorchristlichen Antisemitismus der Antike noch den modernen rassistischen Antisemitismus, aber er weist mit erschreckender Stringenz nach, daß der Übergang vom verbalen Antisemitismus zum praktizierten Judenmord auch religiöse Wurzeln hat. Ausgangspunkt ist die bohrende Frage: Wie war es möglich, daß in einer christlich geprägten Gesellschaft Millionen von Juden angefeindet, ausgegrenzt und schließlich ermordet wurden?

Der Autor konfrontiert die Leser mit brutalen Details von Pogromen, akribisch durch Augenzeugen belegt, und erhellt den religiösen Hintergrund, der Christen zu Mördern an ihren jüdischen Mitmenschen werden ließ. Dazu gehört die Wirkungsgeschichte neutestamentlicher (nicht: jesuanischer!) Texte von den Kirchenvätern bis hin zu den Spätschriften Martin Luthers, die den Nationalsozialisten als Handlungsanweisung dienten, und die Übereinstimmung maßgeblicher Theologen der Bekennenden Kirche mit der judenfeindlichen Politik des Staates erklären. Walther Künneth schreibt dazu: „Was der ‚Fluchcharakter‘ des Juden bedeutet, hat Rosenberg richtig gesehen, aber er weiß nichts von der Ursache dieses Fluches“ (43). Die wenigen Ausnahmen wie Karl Barth, Hermann Maas, Dietrich Bonhoeffer oder der katholische Dompropst Bernhard Lichtenberg wurden in ihrer Kirche als peinliche Fremdkörper empfunden.

Bonhoeffer hatte sich mit seinem Bekenntnis zur bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes („Das Volk Israel wird Gottes Volk bleiben in Ewigkeit“, 1936) in der Bekennenden Kirche so isoliert, daß er nach seiner Verhaftung nicht einmal in deren Fürbittenliste aufgenommen wurde (54). Darin konkretisiert sich die Grundüberzeugung Krapfs: Was zwischen 1933 und 1945 geschah, ist mit wenigen Ausnahmen die direkte Folge einer ungebrochenen Tradition antijüdischer Lehre und Verkündigung des Christentums.

Am gefährlichsten erwies sich die unbewußte Prägung der Christen durch die Charakterisierung der Juden als Gottesmörder, Satansbrut oder als „anders“ als normale Menschen (= Christen). Wie effizient diese Prägung war, verdeutlicht die Selbstrechtfertigung vieler NS-Täter und der großen Masse der Schweigenden. Besonders erschütternd ist das Beispiel des über jeden Verdacht persönlicher Judenfeindschaft erhabenen Karl Barth. F.-W. Marquardt hatte in einer Arbeit über Barths „Israellehre“ die Beschränkung auf das biblische Israel und die Vernachlässigung moderner jüdischer Denker wie Baeck, Buber und Rosenzweig vermerkt. Barth erklärt diesen (von ihm eingestandenen) Mangel damit, daß er in der Begegnung mit lebendigen Juden „solange ich denken kann, immer so etwas wie eine völlig irrationale Aversion herunterzuschlucken hatte“ (182).

Krapf belegt, daß − trotz ermutigender Äußerungen seitens der großen Kirchen − eine adäquate christliche Reaktion auf die Schoa noch immer aussteht. Den Weg dazu sieht er in einer stärkeren Gewichtung der Einzigkeit Gottes und der jüdischen Identität Jesu sowie in einer konsequent neutestamentlich verankerten Christologie, z. B. unter Einbeziehung von 1 Kor 15,28 (Unterwerfung auch des Sohnes unter den einen Gott).

Die Eingangsfrage nach der Notwendigkeit dieses Buches ist uneingeschränkt zu bejahen. Auch wenn es sich primär auf die Kirchen der Reformation bezieht, auch wenn manche Namen falsch geschrieben sind – bei der Fülle der verwerteten Literatur entschuldbar –, auch wenn die einzelnen Fakten nicht neu sind, so weckt die verständlich geschriebene, engagierte Darstellung des erfahrenen Praktikers doch die Hoffnung auf jene Breiten- und Tiefenwirkung, die vielen wissenschaftlich-distanzierten Werken zum Thema bisher versagt geblieben ist.

Hildegard Gollinger, Merzhausen


Jahrgang 9 / 2002 Heft 3 S. 218−220

 



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