Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords
Nicht selten werden die Todesmärsche von 1944/45 mit dem Holocaust in Verbindung gebracht. So vertrat der amerikanische Historiker Daniel Jonah Goldhagen in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“ (1996) die Ansicht, die Phase der Todesmärsche sei das letzte, abschließende Glied der „Endlösung der Judenfrage“ gewesen. Die Triebfeder für die Anwendung dieser Vernichtungsmethode sei in einem fanatischen, mörderischen Antisemitismus zu suchen.
Der israelische Historiker und Professor für Zeitgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem Blatman, einst Schüler von Yehuda Bauer, hat nun – nach mehr als zehn Jahren Forschungsarbeit – eine beeindruckende Pionierarbeit über die Todesmärsche vorgelegt. Vor diesem Hintergrund ist es besonders bemerkenswert, dass die Todesmärsche für ihn am Ende „ein schwer zu erklärendes Kapitel der Geschichte des Völkermords“ bleiben. Seine Forschungen ergaben, dass die Begrenzung des Blickes auf die jüdischen Opfer das Phänomen der Todesmärsche nicht hinreichend zu erklären vermag.
Gewiss waren die meisten Menschen, die in der Endphase des Krieges mittels dieser Vernichtungstechnik ermordet wurden, Juden. Aber Seite an Seite mit den jüdischen KZ-Häftlingen marschierten nicht-jüdische aus vielen Ländern Europas, sogar aus Amerika und aus arabischen Ländern, nämlich: Usbeken, Armenier, Georgier, Ukrainer, Russen, Serben, Polen, Litauer, Letten, Albaner, Griechen, Rumänen, Italiener, Franzosen, Spanier, Belgier, Holländer, Dänen, Norweger, Briten, Türken, Deutsche und Österreicher, Sinti und Roma. Zumeist handelte es sich um Widerstandskämpfer, also politische Gegner der nationalsozialistischen Eroberungsund Vernichtungspolitik. Gleichsam stellvertretend für ihre Herkunftsländer wurde nun an den KZ-Häftlingen Rache geübt, obwohl sie sich in der Rolle der hilflosen Opfer befanden und gar nicht als kämpfende Feinde agieren konnten.
War Rache das einzige Motiv? Und wer waren die treibenden Kräfte? Hitler soll einmal die Devise ausgegeben haben, kein KZ-Häftling dürfe den Truppen der Alliierten, die seit der Jahresmitte 1944 an allen Fronten gegen Deutschland vorrückten, in die Hände fallen. Einige SS-Führer verfolgten das Ziel, das Potenzial der Häftlinge als Arbeitskräfte auch jetzt zu erhalten. Wieder andere praktizierten einmal mehr die seit Jahren eingeübte Vernichtungspolitik. Himmler unterließ es, für das weit verzweigte KZ-System rechtzeitig Evakuierungspläne aufstellen zu lassen. Die Befehlslage blieb diffus und nötigte die Lagerkommandanten zu selbständigem Handeln. In der Regel bedeutete das, dass sie in letzter Minute vor dem Anrücken der Roten Armee die Evakuierung der – zumeist auf polnischem Territorium befindlichen – Lager befahlen und die Häftlinge in langen, entbehrungsreichen Fußmärschen in Richtung Westen trieben. Dabei wurden jeder Mann oder jede Frau erschossen, der oder die diesen Anstrengungen nicht gewachsen war. Aufgrund dieser Erfahrung des gnadenlosen Terrors der deutschen Wachmannschaften prägten die Opfer den Begriff Todesmarsch.
Auf dem Territorium des Deutschen Reiches angelangt, wurden die erschöpften und ausgehungerten KZ-Häftlinge entweder in ohnehin schon überfüllte Lager gesteckt oder zu weiteren Todesmärschen mit unbekanntem Ziel veranlasst. Dadurch erhielt die Heimatbevölkerung eine eigene Anschauung vom Zustand dieser verfolgten Menschen. Die Häftlinge erlebten auch in diesem Umfeld nicht etwa Scham und Hilfsbereitschaft, sondern die angstbesetzte Feindseligkeit nicht nur des SS-Wachpersonals und von Soldaten der Wehrmacht, sondern auch von Angehörigen des Volkssturms, örtlicher Polizisten, von lokalen Parteifunktionären, Ortsvorstehern und Bürgermeistern, von Angehörigen der Hitlerjugend und gewöhnlichen Zivilisten.
„Immer fand sich jemand, der die flüchtenden Häftlinge als apokalyptische Gefahr betrachtete, die gnadenlos vernichtet werden musste.“
Von den etwa 750 000 Häftlingen, die im Frühjahr 1945 in den KZs festgehalten wurden, kamen mehr als 250 000 im Zuge der Todesmärsche oder durch Massaker ums Leben. Eine gewisse Bekanntheit erlangte das Massaker von Palmnicken an der Ostsee.
Ein anderes schreckliches Beispiel hat der Historiker Daniel Blatman minutiös untersucht: Nach einem opferreichen Marsch, bei dem bereits 300 unterernährte, unzureichend bekleidete und völlig geschwächte Menschen gestorben oder erschossen worden waren, gelangte die verbleibende Gruppe von 1400 Häftlingen am 13. April 1945 nach Gardelegen in der Altmark, nördlich von Magdeburg. Dort wurden die Menschen in eine Feldscheune nahe der Stadt eingesperrt und – wie es „im Osten“, während des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, tausendfach geschehen war – durch Abbrennen der Scheune, flankiert durch Maschinengewehrfeuer, ermordet. In Gardelegen agierte nicht die SS, sondern ein NSDAP-Kreisleiter, der von Männern des Volkssturms unterstützt wurde. Der Nazi-Funktionär befürchtete, die KZ-Häftlinge, deren Befreiung durch amerikanische Truppen unmittelbar bevorstand, könnten hernach an ihren Peinigern blutige Rache nehmen. Auch anderswo scheinen die Häftlinge, die sich nun außerhalb der streng bewachten KZs bewegten, von vielen Deutschen als ein gefährlicher Feind betrachtet worden zu sein, der prophylaktisch vernichtet werden musste.
Blatmans grundlegendes Werk über die Phase der Todesmärsche zeigt, in welchem Ausmaß die deutsche Gesellschaft jeder Zeit von dem Virus grenzenloser Gewalt befallen war. Nun fand die Vernichtung von zu Feinden erklärten Menschen vielerorts unmittelbar vor der eigenen Haustür statt.
Wolfram Wette, Waldkirch
Jahrgang 19 / 2012 Heft 2 S. 131−133