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Zsolt Keller

Abwehr und Aufklärung

Antisemitismus in der Nachkriegszeit und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund

Etwa seit den 1970er Jahren werden der Antisemitismus in der Schweiz sowie die Rolle der Schweiz im und nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv erforscht. Zum Themenkomplex sind bereits viele wegweisende Arbeiten erschienen, von denen besonders die 25 Bände umfassenden Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission „Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ von 2001/02 zu erwähnen sind. Der 1977 erschienene Titel „Antisemitismus – bei uns wie überall“ von Friederich Külling oder die umfassende Arbeit von Aaron Kamis-Müller zum „Antisemitismus in der Schweiz 1900–1930“ aus dem Jahr 1990 sowie die viel beachtete Monografie von Jacques Picard „Die Schweiz und die Juden 1933–1945“ (1994 erschienen) dürfen als repräsentative Deutschschweizer Studien gelten, die kritisch aus historischem Blickwinkel antisemitische Einstellungen in der Alpenrepublik beleuchten. Erwähnt werden sollte auch die seit Mitte der 1990er Jahre jährlich erscheinende Dokumentation der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus zu aktuellen einschlägigen Vorfällen in der Schweiz.

All diese Publikationen – und es gibt dazuhin noch eine ganze Reihe anderer, auf die hier nicht eingegangen werden kann – befassen sich in erster Linie mit der Wahrnehmung von Antisemitismus ‚von außen’; Antisemitismus wird so als historische bzw. auch religiös motivierte Größe wahrge nommen und entsprechend hinterfragt. Die Sicht der vom Antisemitismus Betroffenen, also die sog. Binnensicht, führte in der Schweiz bislang eher ein Dasein am Rande, sieht man von autobiografischen Zeugnissen oder Stellungnahmen Betroffener etwa in Umfragen oder in der Presse einmal ab.

Mit der von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahr 2010 angenommenen, acht Kapitel umfassenden Dissertation des Historikers Zsolt Keller liegt seit Ende 2010 eine Monografie vor, die sich – sorgfältig recherchiert, flüssig geschrieben und ebenso sorgfältig lektoriert – erstmals mit eben jener Optik der Betroffenen auseinandersetzt und den schweizerischen Antisemitismus besonders der Nachkriegszeit sowie die Rolle des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) in dieser Frage anhand vieler prägnanter, beispielhafter wie nachdenklich stimmender Fälle ausleuchtet.

Ein Vorfall, den der Autor während seiner Militärzeit (immerhin noch Mitte der 1990er Jahre) selbst erlebt hat, spricht für sich: Die Rekruten bekamen regelmäßig eine bestimmte Fleischkonserve vorgesetzt, die „gestampfter Jud“ genannt wurde und – das steht zu befürchten – immer noch so genannt wird (der SIG hat bereits 1962 bei den entsprechenden militärischen Stellen – erfolglos – Beschwerde gegen diesen Begriff eingelegt). Obschon der Ausdruck überaus perfid ist, wurde dem ehemaligen Rekruten Keller „abwiegelnd […] versichert, dass die Bezeichnung ja nicht böse – und schon gar nicht antisemitisch – gemeint sei“ (253). Vorfälle dieser und ähnlicher Art finden sich in Kellers Studie zahlreich (vgl. besonders Kap. 3).

Zsolt Keller, der seit gut zehn Jahren mit verschiedenen Arbeiten insbesondere zur Geschichte der Jüdinnen und Juden der Schweiz, aber auch zum Gebiet des schweizerischen Antijudaismus / Antisemitismus in der Öffentlichkeit präsent ist (2006 erschien etwa „Der Blutruf [Mt 27,25]: eine schweizerische Wirkungsgeschichte 1900–1950“), will mit seinen aktuellen Ausführungen auf der Folie des Antisemitismus gleichzeitig auch ein „Stück Schweizer Geschichte erzählen“ (9), denn dass Antisemitismus in der Schweiz existent war und ist, zeigt das Buch leider nur allzu deutlich. Kellers deskriptiv-diachron ausgerichtete und in der Kulturwissenschaft verankerte Studie (23) hat zum Ziel, „den Antisemitismus helvetischer Prägung und Provenienz zu fassen und im historischen Gefüge der Schweizer Geschichte [zwischen den Jahren 1943 und 1960] zu analysieren“ (243), indem sie allem voran das reichhaltige Quellenmaterial des SIG-Archivs aus wertet und so ‚den’ Antisemitismus im historisch-gesellschaftlichen Kontext zu erfassen sucht.

Der im Zentrum der Arbeit stehende, 1904 gegründete SIG, das sei an dieser Stelle ergänzend angefügt, ist die Dachorganisation der überwiegenden Mehrzahl der schweizerischen jüdischen Gemeinden; wichtigste Aufgaben des SIG sind gemäß eigenem Internetauftritt

„die Vertretung jüdischer Interessen gegenüber eidgenössischen Behörden, gesamtschweizerischen Institutionen und den Medien, der Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften, die Förderung des Wissens über das Judentum in der Schweiz sowie die Vertretung der Schweizer Interessen in internationalen jüdischen Organisationen. Weiter koordiniert und ergänzt der SIG die Kultur-, Jugend- und Sozialarbeit der Mitgliedsgemeinden.“

Wie in den Jahren nach seiner Gründung, während der Kriegsjahre und danach ist auch heute noch „eine wichtige Zielsetzung des SIG […] die Prävention jeglicher Formen von Antisemitismus und Rassismus. Vertreterinnen und Vertreter des SIG führen verschiedene Aufklärungs- und Informationsmaßnahmen durch und engagieren sich zu diesem Thema in Gesprächsgruppen mit den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften. Auch in der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) ist der SIG vertreten.“ (Letzter Zugriff auf www.swissjews.ch: 7.11.2011). Die Aufgaben des SIG waren und sind somit sowohl politisch als auch religiös motiviert.

Blenden wir zurück in die Zeit von 1943 bis 1960, mit der sich vorliegende Dissertation befasst, der Zsolt Keller den griffigen Obertitel „Abwehr und Aufklärung“ gegeben hat: „Abwehr und Aufklärung“ nannte der SIG sein 1944 gegründetes Ressort (heute: „Prävention und Information“), das die Aufgabe hatte, judenfeindliche Tendenzen und Vorfälle in der gesamten Schweiz einerseits zu registrieren und zu dokumentieren, andererseits aber auch und ganz besonders durch gezielte Aufklärungsarbeit gegenüber politischen und religiösen Gremien den Antisemitismus zu schwächen, ihm also auf rationaler, argumentativer Ebene beizukommen. Soweit die Theorie.

Gerade auf dem Gebiet der Aufklärung waren es jedoch in allererster Linie Rabbiner – und eben nicht der SIG –, die durch Auftritte in Radio und Fernsehen, durch Vorträge oder Synagogenführungen, wie heute übrigens auch, Informationen über das Judentums zu vermitteln und so Vorurteile gezielt abzubauen suchten. Der SIG reagierte zwar teils energisch auf antisemitische Äußerungen und Vorfälle, wurde jedoch von eidgenössischer Seite her kaum unterstützt; so zeigt Keller mittels verschiedener, teils verstörender Beispiele, dass die Behörden die Vorfälle vielfach bagatellisierten (vgl. etwa S. 79) und in Antisemiten beispielsweise oftmals nur Betrunkene oder harmlose ‚Irre’ sahen.

Zsolt Keller ermöglicht mit seinen Ausführungen darüber hinaus vielfältige und differenzierte Einblicke in die Welt des SIG in besagtem Zeitraum, beleuchtet Rolle und Bedeutung des Staates Israel und erläutert in diesem Zusammenhang das (erneute) Aufflammen von Antisemitismus vor und nach der Gründung des Staates Israel, die den SIG vor eine weitere, so noch nie da gewesene Herausforderung der vermeintlichen ‚doppelten Loyalität’ (z. B. S. 189) stellte: Kann man zugleich Schweizer und Jude sein, war die provokante Frage, mit der man sich behördlicherseits zunehmend beschäftigte.

Nicht nur in der Gesellschaft Schweiz-Israel, die 1957 gegründet wurde, befasste man sich – so führt Keller unter anderem aus – mit Fragen wie dieser sowie Fragen zum Verhältnis zwischen Israel und der Schweiz, sondern auch im Rahmen des christlich-jüdischen Dialogs, der nicht zuletzt dank der Gründung der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft (CJA) im Jahr 1946 kontinuierlich bis heute – wenn auch mit Rückschlägen – fortgeführt wird und um die Komponente des Dialogs mit dem Islam auf anderen Plattformen gegen Ende des 20. Jahrhunderts erweitert wurde. Der derzeitige Präsident des SIG, Herbert Winter, hob in seiner Ansprache anlässlich der Vernissage zu Zsolt Kellers sehr lesenswerter und gewinnbringender Studie im Dezember 2010 hervor, dass sie dem SIG „eine neue Entscheidungsgrundlage“ liefere, indem sie seinen Vertreterinnen und Vertretern „den Blick für die Vergangenheit“ schärfe.

Um die Ausführungen auf anekdotische Weise abzuschließen, sei ein kurzer Ausflug in die eidgenössische Bibliothekslandschaft gestattet: Der Katalog der Schweizerischen Nationalbibliothek „Helveticat“ wies kurz nach Erscheinen von Zsolt Kellers Monografie folgenden Eintrag auf: „Abwehr und Aufklärung: Antisemitismus in der Nachkriegszeit und der Schweizerische Israelitische Geheimbund [sic]“ – es spukt eben noch immer in vielen Köpfen herum, dass Jüdisches geheimnisumwittert ist … Der Eintrag wurde inzwischen korrigiert.

Yvonne Domhardt, Zürich / Freiburg


Jahrgang 19 / 2012 Heft 2 S. 140−143

 



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