Eine Kindheit in Berlin
Eine der stärksten Szenen in dieser Autobiographie des Schauspielers Michael Degen ist die Schilderung, wie er und seine Mutter von einem russischen Offizier in ihrem letzten Versteck entdeckt werden. Der Offizier unterzog sie einem strengen Verhör. Gerade den Nationalsozialisten entkommen, waren es jetzt die Russen, die sie mit dem Tod bedrohten. Die beiden hatten Glück. Degens Mutter konnte aufgrund ihrer tschechischen Herkunft sehr gut russisch und er selbst hat als Kind noch die jüdischen Grundgebete auswendig lernen müssen. Und genau danach fragte ihn der Russe:
„Weißt du, was du als Jude tun mußt, wenn dein Vater gestorben ist?”
Und Michael Degen „ratterte das Kaddischgebet in rasender Geschwindigkeit herunter”.
„Sag mir das Gebet, das der Jude spricht, bevor er stirbt.”
„Ich rasselte auch das ‚Schemah Jisrael’ herunter.”
Von da an standen die beiden unter dem Schutz des russischen Offiziers, der sich selbst als Jude entpuppte.
Michael Degen, am 31. Januar 1932 in Chemnitz geboren, ist Schauspieler und hatte Engagements auf allen großen Bühnen in Deutschland und Österreich. Auch in zahlreichen Fernsehfilmen trat er auf. Im Film „Geheime Reichsache” spielte er die Rolle Adolf Hitlers. Aus der Beschreibung seiner Kindheit im Berliner Untergrund wird deutlich, was für das Überleben entscheidend war: Freunde, Geld, Mut und sehr viel Glück. Seine Kindheitsbiographie liest sich wie ein Spießrutenlauf zwischen diesen Elementen.
Degens Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Freunden, die ihnen halfen, auch auf die Gefahr hin, selbst getötet zu werden: die Adelige aus Rußland, die illegalen Kommunisten, ja selbst stadtbekannte Nazis, die nach außen hin immer noch der Partei angehörten, im Inneren aber längst ihren Fehler eingesehen und mit ihrer Hilfe Wiedergutmachung leisten wollten. Daher antwortet er auch auf die Frage, ob er jemals vergessen könne, was man ihm angetan hat:
„Nein, das konnte ich weiß Gott nicht. Aber konnte ich jemals die Hotzes vergessen? Lona, Redlich, die Niehoffs und Martchen? Selbst die Dimitrieff und die Teubers hatten allerhand riskiert. Aus welchen Motiven auch immer.”
Degens Buch ist eher deutsche als jüdische Geschichte. Er erzählt vom kommunistischen Widerstand ebenso wie von den zahlreichen Bombenangriffen über Berlin. Antisemitismus und die Auseinandersetzung mit dem Judentum sind nur latent gegenwärtig. Der religiöse Aspekt spielte für ihr Leben oder Überleben keine große Rolle. Sie wurden als Juden verfolgt, ob sie nun ihren Glauben praktizierten oder nicht.
Mit einem der ersten Transporte emigriert Michael Degen nach Israel, nicht, weil für ihn ein Leben in Deutschland unvorstellbar ist, sondern um seinen älteren Bruder zu suchen, der noch vor Kriegsausbruch mit einem Kindertransport aus Deutschland fliehen konnte. Degens Buch ist ein weiterer Beitrag gegen das Vergessen der Greuel, aber auch gegen das Vergessen jener, ohne deren Hilfe ein Überleben nicht möglich gewesen wäre, denn – darum geht es Degen – nicht alle waren Mörder.
Herbert Winklehner OSFS, Eichstätt
Jahrgang 9 / 2002 Heft 4, S. 291 f.