Wie kann man ein Meer pflügen? Diese Frage stellt sich angesichts des Monumentalwerkes von Benno Jacob (1862−1945), der als Rabbiner in Göttingen und Dortmund lebte und seinen Exoduskommentar noch 1934/35 in Deutschland begann, 1940 beendete und bis 1943/44 im Londoner Exil überarbeitete.
Die Tora ist nie zu Ende geforscht. Wer diesen Kommentar anfängt zu lesen, kommt nicht mehr los. Immer wieder muß der Lesende aber innehalten, um sich die rabbinische Interpretation (vor allem von Ex 19−24) im Unterschied zur historisch-kritischen klar zu machen. Jacob nahm an der wissenschaftlichen Diskussion seiner Zeit lebhaft teil und kritisiert teilweise heftig die alttestamentlich-christliche Forschung in der Wellhausen-Tradition.
In den Blick kommen dabei nicht so sehr die Schlußfolgerungen, die Jacob entweder brillant widerlegt oder sarkastisch der Nichtigkeit preisgibt, sondern die oft zu beklagende antijüdische Haltung seiner christlichen Fachkollegen in der Bibelwissenschaft. Aber in seiner Kritik schlummert der Impuls für den heutigen Dialog, sich auf die Hebräische Bibel mit ihrem Anspruch und Zuspruch, aber auch mit ihrer ethischen Verpflichtung einzulassen und die Welt, auch die Welt des Glaubens an den Einen, mit anderen Augen zu sehen. Im Gegensatz zum historisch-kritischen Ansatz der zwanziger und dreißiger Jahre wird der Bibeltext von Jacob konsequent einheitlich ausgelegt, denn die Tora sei literarisch einheitlich und dem Lesenden obliege es, den ursprünglichen Sinn herauszufinden und zu verstehen.
„Exegese bedeute das Aufspüren der verdeckten Fäden in dem Zusammenhang der Sätze, in denen jedes Wort bedacht und beziehungsvoll sei” (XVII).
Für Jacob sind nicht die historisch-kritischen Rekonstruktionen und die Fragen nach der Quellenscheidung ausschlaggebend, sondern die religiös-sinnhaften und lehrreichen Aspekte der Tora. So kann er z. B. sagen:
„Es gibt für den Auszug aus Ägypten nur einen Beweis, das ist der Sederabend, die Pessachhaggada mit der davor sitzenden jüdischen Familie“(XVII).
Weil Jacob seinen Kommentar für Juden geschrieben hat, öffnet sich für Christen ein anderer Zugang zur Wahrheit des Wortes, das zu vernehmen, zu hören, zu tun Christinnen und Christen gleichermaßen aufgetragen ist. (Vgl. dazu die erste These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934.)
Der Kommentar gliedert sich in drei Teile, gefolgt von einem Anhang mit 4 Exkursen: I. Israel in Ägypten; II. Der Berg Sinai; III. Die Mischpatim des Exodus und die Altorientalischen Gesetze; IV. Die Zahl der Verse des Buches Exodus. Abgeschlossen wird diese wissenschaftliche Edition mit einem Abkürzungs- und Literaturverzeichnis und einer Bibliographie der Schriften Benno Jacobs.
Jacob liest und interpretiert konsequent von zwei Richtungen her: einmal vom Zusammenhang mit dem Buch Genesis und zum anderen von der Mitte der Tora, vom Sinaigeschehen her. Beide Leserichtungen sind dialektisch miteinander verschränkt, so daß der Blick immer wieder auf das Deuteronomium fällt und dieses von Genesis und Exodus her interpretiert wird.
Christliche Lesart geht oft den umgekehrten Weg, z. B. bei der Interpretation des Dekalogs. Geradezu genial ist die literarische Analyse von Ex 3, das Jacob entgegen gängiger Meinung literarisch einheitlich sieht. Die auffälligen Unebenheiten des Textes (z. B. Wechsel des Gottesnamens / Parallelität von V 7 und 8 mit 9 und 10 u. a.) erklärt er als „psychologisch“ plausibel. Jacob wirft christlichen Exegeten vor, zu schnell auf die Hypothesen der Quellenscheidung einzugehen und nicht die literarische Einheit zu prüfen, die viel schwieriger zu begründen wäre. Er holt damit ins Bewußtsein zurück, daß es sich bei den von der historisch-kritischen Forschung angenommenen Quellen des Pentateuch (J, E, JE, P, D) immer noch um Hypothesen handelt.
Freilich hält diese Kritik von jüdisch-exegetischer Seite her die Chance offen, vermeintliche wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten immer wieder in Frage zu stellen. Andererseits sind auch die Fragen, Antworten und Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung ernst zu nehmen. Auch religionshistorische Fragestellungen und Ergebnisse gehören in diesen Rahmen, der an Jacobs These von der Einheitlichkeit der Tora rüttelt.
Was die heutige christlich-exegetische Forschung erst wieder mühsam lernt, die Rekonstruktion wieder auf das Ganze und Gesamte des heutigen Bibeltextes und des Pentateuchs/der Tora zu extrapolieren, liegt bei Benno Jacob bereits vor. Vers für Vers bietet Jacob eine gründliche Interpretation, die sich harmonisch in seinen Ansatz einfügt. Abweichungen werden ebenfalls genauestens markiert und ausführlich diskutiert, so z. B. in den beiden Dekalogfassungen. Jacob geht davon aus, daß jede Abweichung Sinn mache und ein eigenes Verständnis erfordere.
Mitunter sind auch die Wort- und Sprachschöpfungen Jacobs erfrischend und einprägsam: „Nicht metaphysisch soll Gott (J-h-w-h) verstanden werden, sondern geschichtlich” (71). „Alle Völker sind ‚Kinder Gottes‘” (ähnlich 611); oder mit Bezug auf Gen 1,10 „Wie könnte ein Werk seiner Hände [...] außerhalb seiner väterlichen Liebe und Fürsorge stehen [...]?”(98). Die Liebe Gottes zu den Menschen ist der heimliche Leitfaden des Kommentars, denn
„Israel gehört IHM allein, aber IHM gehört nicht Israel allein“ (538).
Ich hoffe sehr, daß in Zukunft dieser akribische Kommentar wieder mehr Eingang in die wissenschaftliche und exegetische Diskussion findet. Den Herausgebern und dem Calwer Verlag ist zu danken, der verlegerische Mut und das ökonomische Risiko sind zu würdigen.
Wilhelm Schwendemann, Freiburg
Jahrgang 9 / 2002, Heft 4, 297−299.