Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy
Die soeben erschienene Ausgabe der Briefe von Franz Rosenzweig an Margrit Rosenstock-Huessy stellt zweifellos eine Sensation dar, wenngleich die Briefe von Margrit Rosenstock an Franz Rosenzweig von dessen Ehefrau Edith, geborene Hahn, vernichtet worden sind. Die Briefe an die Freundin datieren von 1917 bis 1926. Wesentlich daran ist jene Korrespondenz, in der Rosenzweig sich mit dem „Stern der Erlösung” beschäftigt und über dessen Inhalt Margrit berichtet. Daneben finden sich auch Briefe an den Ehemann von Margrit, Eugen Rosenstock, der sich bekanntlich hat taufen lassen und mit dem der berühmte Briefwechsel über Judentum und Christentum existiert, und an dem durch diese Briefe manches ergänzt wird.
Rosenzweigs Einsichten über das Christentum, die er gegenüber Margrit äußert, sind manchmal aphoristisch. So schreibt er:
„Kirche und Christentum ist eben immer wieder zweierlei: Als Christin kannst Du jenseits von beiden Kirchen wohnen, mußt es sogar.”
Weiter heißt es:
„Die Ewigkeit umrauscht uns in jedem Augenblick; es brauchen uns bloß die Ohren aufgetan zu werden, im Leben und im Tode; sie war, ehe die Welt geschaffen wurde. Aber das Reich Gottes wird. Gott läßt sich leicht lieben, der Nächste sehr schwer (weil sich Gott schenkt, aber der Nächste nicht)” (59).
Überhaupt ist das Buch voller tiefer Einsichten. Erwähnt sei hier ein Brief vom 15. September 1920, wo er über den Sabbat schreibt:
„Ein zerstörter Sabbat ist keiner. Man kriegt die Formen nicht geschenkt, − sie wollen gepflegt sein. Also man kann nicht verhetzt im letzten Augenblick hineinplatzen, man darf nicht während des Essens telefonieren müssen, wo man morgen sein will, nicht nach dem Essen schleunigst fortmüssen oder einen Fremden herbestellen damit er ‚mich kennen lernt‘.
Der Sabbat ist nicht (wie auch Eugen neulich noch meinte) eine Art Jour fixe, sondern eher ein allwöchentlicher − Geburtstag. Nämlich ein Familienfest, bei dem die Familie unter sich ist mit den Gästen, die als Hausgenossen bei ihr sind, und mit solchen, die sie sich ausdrücklich zu dem Tag eingeladen hat” (658).
Über Personen schreibt Rosenzweig oft sehr treffende Urteile. So erkennt er in dem jungen Studenten Ernst Simon bereits den begabten Menschen und dessen später sich erweisende bedeutende Persönlichkeit. Über Scholem heißt es:
„Ein ganz doller Kerl. Ein jüdischer Mönch. Einer, der sein Leben geopfert hat, um zu lernen. Ganz unvorstellbare Gesichter, (nicht ein Gesicht). Er kann ganz aussehn wie ein Ostjude, und dann wieder wachsbleich und entzündet wie ein Engel. Dazwischen wie ein dummer Junge. Als er sich angemeldet hat, dacht ich, ich müßte ihn lehren. Als er da war, meinte ich, ich müßte mich an ihm ärgern. Und ein paar Stunden später merkte ich, ich müßte nur von ihm lernen” (744 f.).
Die Briefe geben auch einen lebendigen Eindruck über Rosenzweigs Tätigkeit und die Gründung des Lehrhauses in Frankfurt sowie über den Beginn seiner Ehe mit Edith Hahn, die leider im Namenregister vergessen wurde und weder unter Edith Rosenzweig noch unter ihrem Mädchennamen Edith Hahn zu finden ist. Über seine Beziehung zu Margrit schreibt Rosenzweig etwa am 25. Dezember 1919 (56 ff.), wobei wesentlich ist, daß der Brief an Margrit und Eugen Rosenstock geht.
Die privaten Aspekte dieser Briefe scheinen eher sekundär zu sein, etwa Rosenzweigs kritisches Verhältnis zu seiner Mutter, die nicht unproblematische Ehe mit Edith Hahn zumindest in den Jahren des intensiven Briefwechsels mit Margrit Rosenstock-Huessy oder die Haltung Eugen Rosenstocks zu dieser Beziehung. Trotzdem bleibt die Tatsache, daß er Margrit Wesentliches über sein geistiges Werden mitteilt.
Diese Briefausgabe ist gelegentlich auch kritisiert worden, etwa in der F.A.Z. vom 3. Juni 2002. So wird bemerkt, daß die genaue Anzahl der vorhandenen Briefe nicht angegeben wurde und die Rede von „mehr als tausend Briefen” ist. Offensichtlich gibt es also noch einige mehr. Außerdem finden sich Auslassungen, die zwar gekennzeichnet sind, aber ob es sich dabei immer nur um wiederholte Floskeln handelt, bleibt unklar.
Man wird im übrigen diese Briefe besser verstehen, wenn man die beiden früher veröffentlichten Briefbände aus dem Jahre 1979 daneben konsultiert. Gemeinsam jedoch geben sie ein volles Bild von Leben und Werk Franz Rosenzweigs aus jenen Jahren. Aufs Ganze gesehen kann man den Herausgebern Inken Rühle und Reinhold Mayer dankbar sein. Im Vorwort (Nov. 2001) betont Rafael Rosenzweig (1922–2001) zu Recht, daß von Franz Rosenzweig noch keine umfassende Biographie existiert. Um so wichtiger seien die jetzt vorgelegten Briefe. Rafael Rosenzweig verstarb am 2. Dez. 2001.
Ernst Ludwig Ehrlich, Riehen/Basel
Jahrgang 9 / 2002 Heft 4 S. 286 f.