Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Leseproben > Rezensionen ab Jg. 2001 > 1282  

Home
Leseproben
Artikel ab Jg. 2001
Rezensionen ab Jg. 2001

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1986

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Artikel
Mitteilungen
Rezensionen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Arno Lustiger

Rettungswiderstand

Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit

Außerhalb Israels dürfte kaum jemandem bekannt sein, dass der vollständige Name des Holocaust-Gedenktags nicht Jom ha-Schoa ist, sondern seit 1959 „Jom Ha-Sikaron La-Schoa we-la-Gewura“, „Gedenktag der Katastrophe und des Heldentums“. Das hat seine Berechtigung aus historischen und pädagogischen Gründen.

Für die Mehrheit der Überlebenden – und vor allem für die Nachkommen – war die Vorstellung, Millionen Juden hätten sich widerstandslos zur Schlachtbank führen lassen, unerträglich. Für die in Israel nach dem Krieg geborene Generation machte erst der Eichmann-Prozess das Verhalten der europäischen Juden einigermaßen nachvollziehbar, denn er zeigte, dass der NS-Staat jegliches nonkonformes Verhalten mit Terror im Keim erstickte und die Opfer im Unwissen über ihr Schicksal ließ. Nur so konnte eine fast „reibungslose“ Deportation und Vernichtung so vieler Juden und anderer Opfer vonstatten gehen. Die verhältnismäßig wenigen Widerstands- und Ungehorsams-Momente sollten darum eine ganz besonders beeindruckende Leuchtkraft ausstrahlen, als Vorbild für die Nachgeborenen.

Arno Lustiger hat sich Zeit seines Lebens dieser Aufgabe verschrieben. Schon 1989 hat er mit seinem Buch „Schalom Libertad!“ die 6000 jüdischen Kämpfer des spanischen Bürgerkriegs aus der Vergessenheit geholt. 1994 erschien sein breit angelegtes Panorama jüdischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus 1933–1945, „Zum Kampf auf Leben und Tod“. Trotz geringer Möglichkeiten und zahlreicher Hindernisse kämpften Zehntausende Juden als Partisanen gegen die deutsche Wehrmacht und leisteten in zahlreichen Gettos, nicht nur in Warschau und in Wilna, heroischen Widerstand. Mit den Büchern „Sog nit kejnmol“ und „Sing mit Schmerz und Zorn“ beleuchtete er auch einen besonderen und ihm wichtigen Aspekt des Widerstands – die Widerstandslieder.

Mit seinem neuen Buch fasst er die Ergebnisse seiner langjährigen Recherchen auf diesem Gebiet zusammen, gestützt auf die Forschungsarbeit anderer Historiker, die als Gastautoren mitwirkten. Einer davon ist Wolfram Wette („Stille Helden“, „Retter in Uniform“), der auch das Vorwort geschrieben hat. Das Resultat ist ein großangelegtes Werk, das als Handbuch und Lexikon des Widerstands gelten darf. In diesem seinem Opus magnum würdigt Lustiger beide Arten des Kampfes: zum einen den Widerstand in seinen verschiedenen Facetten, den sowohl Juden wie Nichtjuden gegen den Naziterror leisteten, zum anderen alle Rettungsbemühungen um verfolgte Juden in ganz Europa. Durch die Verschmelzung von Widerstand und Rettung prägt er einen neuen Begriff – den Rettungswiderstand.

Jahrzehntelang diente das Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944 als Musterbeispiel deutschen Widerstands gegen Hitler. Mit Recht kritisiert Lustiger, dass dieser zaghafte Widerstand einer Gruppe von Militärs und Aristokraten viel zu spät kam, kurz vor der militärischen Niederlage und nachdem der Völkermord an den Juden zum größten Teil schon geschehen war. Umso verwunderlicher ist, dass er den Attentatsversuch Georg Elsers vom 8. November 1939 mit keinem Wort erwähnt. Kaum vorstellbar, welch anderen Verlauf die Geschichte genommen hätte, wenn dieses Attentat zu diesem frühen Zeitpunkt Erfolg gehabt hätte. Auf jeden Fall hätte der Völkermord an den Juden so nicht geschehen können und die teils verzweifelten Rettungsbemühungen wären nicht nötig gewesen.

Neben dem Attentat bzw. Attentatsversuch, der Sabotage und Spionage, dem Druck und Vertrieb illegaler Schriften sind auch passivere Formen des Widerstands möglich wie Flucht, Fluchthilfe und Versteck, Vermittlung von Verstecken bzw. Versorgung der Gefährdeten. Was zum Widerstand alles zählt, ist nicht immer so klar zu definieren. In ihrem Buch „Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933–1945“ (Hamburg 1984) zählten die Autoren Konrad Kwiet und Helmut Eschwege als letzte Form der Verweigerung auch den Selbstmord, mit der Begründung: sich der Deportation zu entziehen störte den Verlauf der Vernichtungsmaschinerie.

Den Kriterien Lustigers entspricht das nicht, denn damit wurde, anders als in Fällen des Verstecks oder der Flucht, kein Menschenleben gerettet. Es waren vor allem gewissenhafte und couragierte Einzelpersonen, die den Mut aufbrachten, in der Zeit des Nazi-Terrors das menschliche Antlitz zu wahren und Menschen in Not zu helfen. Hier und da bildeten sich auch kleine Netzwerke von Helfern, wobei die Gefahr des Verrats wuchs, je größer die Zahl der Eingeweihten war. Denunziantentum galt im Dritten Reich ja als Bürgerpflicht; selbst Kinder wurden zum Verrat ihrer Eltern angehalten. Der Fall des niederländischen Dorfes Nieuwlande (S. 242), in dem sämtliche Haushalte Juden versteckten, bleibt einzigartig. Doch Länder wie Dänemark und Bulgarien, wo sich beinahe die gesamte Bevölkerung (samt höchsten Repräsentanten) im Rettungswiderstand engagierte, sind zu bewundern.

Die Hauptschuld des Völkermords tragen die deutschen Mörder und ihre Helfershelfer in den besetzten Ländern. Ganz frei von Schuld sind aber auch die unbesetzten Länder nicht, die ihre Tore vor den asylsuchenden Flüchtlingen versperrten. Fast als ein einziger Lichtblick, zumindest auf Regierungsebene, erscheint die Bereitschaft Großbritanniens, 10 000 Kinder aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei aufzunehmen. Für diese großartige Rettungsaktion engagierten sich vor allem die Holländerin Geertruida Wijsmuller-Meyer, bekannt als Tante Truus, und der Engländer Nicholas George Winton (S. 375 f.).

Die Beispiele von Hilfeleistungen für verfolgte Juden in Deutschland sowie in den besetzten Ländern Europas legen Zeugnis davon ab, dass es auch unter der schlimmsten Verfolgung noch immer Alternativen zu Mitläufertum und blindem Gehorsam gab. Neben den Duckmäusern, Opportunisten und Denunzianten gab es auch jene, die eine humane Gesinnung bewahrten. Das bewiesen u. a. auch die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich in Berlin, die mit einem kleinen Netz von Helfern verfolgten Juden in ihrer Wohnung Zuflucht bot, Verstecke, Lebensmittel und falsche Papiere besorgte (S. 41 f.), die Freiburger Caritas-Mitarbeiterin Gertrud Luckner, die jüdischen Flüchtlingen über die Schweizer Grenze half (S. 36, 70), aber auch die als Prostituierte angeprangerte Hedwig Porschütz, die Hauptgehilfin Otto Weidts in seiner Berliner Blindenwerkstatt (S. 45 f.). Selbst der Lagerkommandant Erwin Dold leistete Widerstand, indem er bessere Bedingungen für die Insassen schaffte und eine befohlene Exekution von Gefangenen verweigerte.

Der durch den Film zu großem Ruhm gelangte Oskar Schindler bewahrte in seiner kriegswichtigen Fabrik Hunderte Juden vor Deportation und Tod. Solche Fälle zeigen, dass es Spielräume und Gelegenheiten gab, Menschen in der Not zu helfen, oft auch ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. So wie sie haben einige Hunderte Deutsche gehandelt. Es hätte Tausende geben sollen.

Anders als oft vermutet sind gerade in Polen, wo der Hauptteil der Vernichtung vonstatten ging, die meisten Beispiele von Rettungswiderstand berichtet worden, was sich auch in der hohen Zahl der Retter (6266 von der Gesamtzahl von 23 778), die als Gerechte gewürdigt wurden, spiegelt, – wobei diese Gesamtzahl der durch Yad Vashem gewürdigten Retter nicht der Zahl der tatsächlichen Retter entspricht. Dazu zählen illustre Persönlichkeiten wie Irena Sendler und Oswald Rufeisen alias Bruder Daniel, bekannt durch viele Bücher, wie etwa „Daniel Stein“. Besonders heikel waren die Bemühungen von Rudolf Kastner und Joel Brand, die sich um die Rettung der ungarischen Juden auf Verhandlungen mit den Mördern einließen (S. 324 f.).

Die Beispiele der Rettungsgeschichten und der mutigen Menschen hinter ihnen sind so unterschiedlich wie faszinierend: von dem schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg (1912–1947), der mehr als 6000 Schutzpässe für ungarische Juden besorgte (S. 335 f.), bis zum Polizeihauptmann Paul Grüninger (Schweiz), der – verbotenerweise – über 2000 Juden aus Österreich die Grenze in die Schweiz passieren ließ (S. 351 f.). Neben ihnen gab es aber Tausende „unbesungene Helden“, die gleichfalls der Stimme des Gewissens folgten und Mut bewiesen, als es darauf ankam.

Für Arno Lustiger war es aber wichtig, keine zahlenmäßig erfolgsbestimmte „Hierarchisierung“ aufzustellen:

„[...] was für mich zählt, ist die Bereitschaft der Retter, ihre und ihrer Angehörigen Freiheit, Gesundheit und Leben einzusetzen, um den ihnen manchmal unbekannten Menschen beizustehen und sie zu retten. Ihnen gebührt eine, wenn auch sehr späte, Würdigung.“

Damit bleibt er der jüdischen Tradition treu, die in einem talmudischen Midrasch den Maßstab setzt:

„Warum ist im Anfang nur ein Mensch erschaffen worden? Um dich zu lehren, dass die Schrift demjenigen, der nur eine einzige Seele (Israels) vernichtet hat, es anrechnet, als hätte er die ganze Welt vernichtet, und dass sie demjenigen, der nur eine einzige Seele (Israels) erhält, es anrechnet, als hätte er die ganze Welt erhalten“ (Mischnah Sanhedrin 4,5)

Arno Lustiger ist ein großartiges Buch gelungen, das zur Menschlichkeit und zur Zivilcourage ermutigen und erziehen kann.

Ruben Frankenstein, Freiburg


Jahrgang 19 / 2012 Heft 3 S. 213−216


top