Rekonstruktionen zu einem jüdisch-christlichen Thema
Susanne Talabardon, Professorin der Judaistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, untersucht in ihrer rezeptionsgeschichtlichen Studie christliche und jüdische Interpretationen des biblischen Motivs des Feigenbaums. Ziel ist es, so die Autorin, das Symbol des Feigenbaums zum „Gegenstand eines tatsächlichen oder fiktiven jüdisch-christlichen Dialogs“ zu entfalten und unterschiedliche jüdische und christliche Positionen in und zu diesem Dialog, Entwicklungslinien sowie hermeneutische Regeln zu verdeutlichen.
Die ausführliche Analyse ausgewählter Feigenbaumerzählungen umfasst Texte des Neuen Testaments, rabbinische Betrachtungen sowie mittelalterliche und frühneuzeitliche Verarbeitungen des Feigenbaummotivs. In insgesamt sechs Kapiteln des Buches wird der Leser an das anspruchsvolle Quellenmaterial herangeführt. Ihm erschließt sich unter Beachtung der historischen Situation des jeweiligen Autors eine Vielfalt christlicher und jüdischer Interpretationen, die sich aus der gemeinsamen Basis der biblischen Feigenbaummetapher im Laufe der Geschichte entwickelten. Interessant ist dabei auch die Betrachtung der Texte aus verschiedenen Perspektiven, sodass sich je nach zeitlichem Kontext oder Intention des Verfassers nicht selten unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten ergeben.
Mit den neutestamentlichen Feigenbaumerzählungen beginnt, so erklärt Susanne Talabardon, die Geschichte einer jüdisch-christlichen Polemik. Die Erzählungen in den vier Evangelien beziehen sich auf die Tradition des Feigenbaummotivs in der Hebräischen Bibel, in der der Feigenbaum und seine Früchte ähnlich dem Ölbaum und Weinstock einerseits positive Metapher für göttlichen Segen und Prosperität sind, jedoch auch auf das göttliche Gericht oder dessen Androhung verweisen. Die neutestamentliche Überlieferung von der Verfluchung des Feigenbaums durch Jesus (Mk 11,12–25 und Mt 21,18–19) wird in der Analyse als eine Symbolhandlung gedeutet, die das Gericht gegen Israel bzw. – nach dem Evangelisten Matthäus – gegen die jüdische Oberschicht ankündigt.
Im nächsten großen Kapitel der Studie untersucht die Autorin frühchristliche Kommentare zu den neutestamentlichen Feigenbaumbildern (u. a. Irenäus von Lyon, Ephraem der Syrer und Ambrosius von Mailand sowie zwei deuterokanonische Schriften des Neuen Testaments). Diese führen die Feigenbaumerzählungen der Evangelien zusammen und entwickeln sie in eigenen exegetischen Traditionen weiter. Dabei dient den christlichen Autoren die Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaums durch Jesus häufig dazu, Israel als verworfen und durch die werdende Kirche ersetzt zu erklären. In der Untersuchung der rabbinischen Deutungen des biblischen Feigenbaummotivs wird u. a. gefragt, inwieweit die jüdischen Autoren in ihren Feigenbaumdeutungen direkt oder indirekt Bezug auf die christlichen Traditionen nehmen. Bei aller Schwierigkeit dieser Frage ist als eine mögliche Deutung, so Susanne Talabardon, anzunehmen, dass sich die rabbinischen Autoren durchaus mit der eschatologischen sowie messianologischen Lehre des Christentums in ihren Erzählungen auseinandersetzen und gegen diese auch implizit Polemiken formulierten.
In der Betrachtung der christlichen und rabbinischen Feigenbaumdeutungen liegt der Reiz der Lektüre im Besonderen in der detaillierten Quellenanalyse, die dem Leser Schritt für Schritt die schwierigen Textpassagen eröffnet. Neben der Einordnung des jeweiligen Autors in seine geschichtliche Situation, liefert die Studie auch thematische und methodische Einführungen, die das Textverständnis unterstützen. Zudem werden eventuelle Brüche oder Widersprüche in den Passagen vergegenwärtigt, erklärt und hinsichtlich ihrer Deutung aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Den christlichen Polemiken, die auch in der Zeit des Hochmittelalters Israel als verworfen und durch die Kirche verdrängt betrachten, stellen sich ab dem 12. Jahrhundert in Europa jüdische Polemiker entgegen, die den Lehren des Christentums, dessen Überlieferung und Anspruch der Überordnung entgegentreten. Dabei rückt auch die Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaums durch Jesus in den Blick, anhand derer die jüdischen Autoren die Göttlichkeit Jesu in Frage stellen und widerlegen.
Die Analyse des frühneuzeitlichen Werks von Abraham ben Salomon von Torrutiel über Rabbi Nathanael, der einen Feigenbaum verflucht, führt die verschiedenen Deutungen dieser Erzählung vor Augen, die je nach ihrer Zuordnung zu verschiedenen historischen Kontexten und den biografischen Erfahrungen des Tradenten Abraham von Torrutiel ganz unterschiedlich ausfallen.
Eine weiterführende Klärung der Differenzierung zwischen Gleichnis, Allegorie, Metapher und Symbol ist für die detaillierte Betrachtung des Materials sinnvoll. Jedoch ist dies für das Ziel der vorliegenden Studie, nämlich der Entfaltung eines fiktiven oder tatsächlichen jüdisch-christlichen Dialogs nicht ausschlaggebend. Gerade die Zuwendung zu dem sehr spezifischen und besonderen Motiv des Feigenbaums verschafft diesem Dialog ein konkretes sowie gehaltvolles Forum, in dem Dilemmas, Hindernisse und Möglichkeiten sowie die Notwendigkeit eines Dialogs jenseits einer langen Geschichte von Polemiken deutlich vor Augen geführt werden.
Ulrike Kleinecke, Geismar
Jahrgang 19 / 2012 Heft 3 S. 232−234