Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Leseproben > Rezensionen ab Jg. 2001 > 1331  

Home
Leseproben
Artikel ab Jg. 2001
Rezensionen ab Jg. 2001

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1986

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Artikel
Mitteilungen
Rezensionen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Klaus Wengst

Das Regierungsprogramm des Himmelreichs

Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext

Noch ein Buch zur Bergpredigt! Aber dieses Buch hat Besonderheiten. Da schreibt ein Fachmann nicht für Fachleute, sondern vor allem für das „interessierte Publikum in den Gemeinden“ (8) und will damit eine Kehrtwende in der Einstellung der (evangelischen) Christen zum Judentum erreichen. Das geht aber nur, wenn sich nicht nur Fachleute, sondern auch Christen aller Konfessionen mit der jüdisch-rabbinischen Literatur beschäftigen, die zum Vergleich herangezogen wird, und das ist ja nicht einmal an den theologischen Fakultäten der Fall, geschweige denn in den Gemeinden.

Schon im Vorwort distanziert sich der protestantische Exeget Wengst, der Neues Testament und Judentumskunde an der Universität Bochum lehrte, vom Antijudaismus Martin Luthers, nicht nur in dessen Auslegung der Bergpredigt (7). Wengst geht davon aus, „dass Matthäus die Rede Jesu […] – wie sein ganzes Evangelium – im Kontext des frührabbinischen Judentums zusammengestellt und ausformuliert hat“ (7) und schreibt schon in der Einleitung seines Buches:

„Für mich ist es im Blick auf das ganze Neue Testament eine wesentliche Lernerfahrung der letzten gut zwanzig Jahre, dass dieses Buch zwar als Ganzes seit seiner Zusammenstellung ein christliches Buch ist, dass aber die meisten seiner Schriften – wenn nicht alle – bei ihrer Entstehung jüdische Schriften waren. Ich habe es mir deshalb abgewöhnt, zur Kennzeichnung von Phänomenen des ersten Jahrhunderts, die die auf Jesus bezogene Gemeinschaft betreffen, die Begriffe ‚christlich‘, ‚Christ(en)‘ und ‚Christentum‘ zu gebrauchen. Mit dieser Terminologie trägt man die spätere Trennungsgeschichte mit ihrem Gegenüber und ihren Gegensätzen von Judentum und Christentum hinterrücks mit ein.

Daher möchte ich mit meiner Auslegung von Jesu Lehre auf dem Berg nach Matthäus 5–7 vor allem deutlich machen, wie stark sie in ihrem jüdischen Kontext verwurzelt ist. Es käme darauf an, wie wir als Völkerkirche diesen so entstandenen Text auf- nehmen können, ohne ihn antijüdisch zu profilieren und ihn dabei auch nicht einfach nur historisierend in seine vergangene Entstehungszeit einzubetten“ (7 f.).

Die Exegeten Peter Dschulnigg (Mk-Ev) und Peter Fiedler (Mt-Ev) z. B. unterstützen aus dem katholischen Bereich diesen Ansatz.  Bei Exegeten muss man heute genau auf die Zwischentöne hören. Wengst korrigiert Luther-Übersetzungen und verändert damit auch deren autoritative Wirkungsgeschichte. Die Bergpredigt wird von ihm nicht mehr als Antithese verstanden, sondern als Übernahme jüdischer Tora-Auslegung durch Jesus und den Evangelisten Matthäus und doch in einer trotzdem erkennbaren Akzentuierung für die messianische Gemeindeethik der später „Christen“ genannten Gemeinden aus Juden und Nichtjuden, den sog. Heiden.

Beim Titel des Buches „Regierungsprogramm des Himmelreichs“ kommen einem Assoziationen aus dem politischen Bereich, die in demokratischen Kontexten bei regelmäßig wechselnden Konstellationen und Regierungsprogrammen sofort in die Irre führen. Gemeint ist bei der Bergpredigt / Berglehre eine spirituelle und ethische Anleitung der messianischen Bewegung Jesu: Wie das Wirken Gottes anfangshaft, aber tatsächlich auch als erhoffte Zukunftsperspektive erfahren werden kann und was der einzelne und die messianische Gemeinschaft dazu beitragen kann, um dieses Wirken Gottes in der Welt zu unterstützen und zu fördern.

Im 1. Kapitel geht es Wengst um die Erfahrung und Bezeugung von Veränderungen von irdischen Verhältnissen, die auf das (Mit)Wirken Gottes und Jesu Christi zurückgeführt werden können. Aus den traditionellen „Seligpreisungen“ (mit ihrem eher eschatologischen Akzent und dem Missverständnis der Vertröstung) werden bei Wengst „Beglückwünschungen“ (32–56) von Menschen, die diese anfanghaften Veränderungen und darin das (Mit)Wirken Gottes und Jesu Christi erfahren haben und daraus Zuversicht für kommende Entwicklungen sehen lernen und sie unterstützen können.

Das Buch zur Bergpredigt / Berglehre ist das Ergebnis einer langen wissenschaftlichen und spirituellen Beschäftigung. Charakteristisch ist, dass Wengst z. B. für die Beglückwünschungen (Seligpreisungen) im Matthäus- Evangelium aus über 1600 rabbinischen Zitaten vergleichbare Texte heranziehen kann, in denen die Spanne und Spannung von Indikativ und Imperativ deutlich wird (55).

Martin Luther hatte es abgelehnt, sich mit rabbinischer Literatur zu beschäftigen, weil er davon keinen erhellenden Beitrag erwartete, der protestantische Exeget Wengst holt das jetzt nach, aber nicht um Judenmission zu betreiben (wie er den „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“ von Strack / Billerbeck [Anfang des 20. Jh.] entlarvt, siehe S. 225 f.), sondern um seinen Teil zur Überwindung der unseligen Geschichte des Protestantismus und gerade auch des sog. Neuprotestantismus zum Judentum beizutragen. Das sagt Wengst in bemerkenswert klaren Worten:

„Die lutherische Paulusdeutung, die ihrerseits schon nichts sonst ist als Projektion und dem Judentum bitter unrecht tut, dient hier also dazu, Jesu Lehre auf dem Berg trotz aller aufgezeigten Entsprechungen schließlich doch noch in einen prinzipiellen Gegensatz zum Judentum zu bringen“ (226).

Das Buch könnte für Predigt, Katechese und Religionsunterricht große Folgen haben. Erforderlich wären verantwortliche Neuübersetzung(en) des Neuen Testaments. Das Denken in Antithesen war so schön einfach und didaktisch zu handhaben. Die bisherige Didaktik der Antithesen (hier jüdisch, da christlich) müsste verändert werden durch einen Dreischritt:

1) Zitate AT und Vulgärethik;
2) Rabbinische Deutungen der Tora;
3) Messianische Akzentuierungen der Tora innerhalb der jüdischen Tradition.

Die Frage bleibt, warum Mt nicht selber die rabbinischen Auslegungen der Tora zum Vergleich mit aufgenommen hat. Waren die so bekannt, dass er sie einfach voraussetzen konnte? Wengst teilt die Bergpredigt / Berglehre dann auf in vier Themen:

1) Jesu Schüler als Zeugen der Gerechtigkeit Gottes („des Himmelreichs“);
2) Gerechtigkeit nach Jesu Auslegung der Tora;
3) Das Trachten nach dem Himmelreich und nach Gottes Gerechtigkeit;
4) Die Relevanz des Tuns für die Teilhabe am Himmelreich.

So wie das Judentum aus dem Geist der Tora beiträgt zur „Gerechtigkeit Gottes“ hat das messianische Judentum, das spätere Christentum, einen charakteristischen Beitrag dazu leisten wollen durch die Befolgung der Auslegung der Tora durch den Messias Jesus. Judentum und Christentum wenden sich jeweils an alle Menschen und tragen nicht gegeneinander, sondern miteinander dazu bei, dass die Welt im Sinne Gottes zu Gerechtigkeit und solidarischer Gemeinschaft finden kann.

Hans-Walter Nörtersheuser, Löffingen


Jahrgang 19 / 2012 Heft 4 S. 295−297


top