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Aharon Appelfeld

Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen

„Wellen der Dunkelheit trugen mich, sie brachten mich voran. Wohin bringen sie mich?, fragte ich mich, und meine Antwort war: nach Hause. Ich war sehr überrascht von diesen Worten“ (9).

Es ist das Jahr 1946, mit dem dieser autobiografisch gefärbte Roman beginnt: Erwin, der junge Protagonist, der denselben Namen trägt wie einst Aharon Appelfeld, wurde von Flüchtlingen getragen bis nach Neapel und erlebte diesen Weg meist schlafend. Nur langsam lässt er den Schlaf los, denn im Schlaf ist er zu Hause, in den Träumen findet er seine Mutter, seinen Vater, sein Elternhaus, das Kindermädchen, also „alles, was ich liebte“, wie ein Roman aus dem Jahr 1999 heißt (dt. Übers. 2002). Außerhalb der Traumwelten gibt es sie alle nicht mehr.

Und so kommt Erwin per Schiff nach Eretz Jisrael. Dort erwarten ihn Arbeit und Training, das ein „Muskeljudentum“ (23) hervorbringen soll, Erlernen der hebräischen Sprache, militärischer Einsatz und eine schwere Verwundung. Doch er ergibt sich nicht; er ist stark, er kämpft, bis er so weit ist, in Tel Aviv eine Wohnung eines Verstorbenen übernehmen zu können mit Hilfe Riwkas, einer verschlossenen Frau, die für ihn tagsüber das Notwendige verrichtet und in ihrem Schweigen lebt.

Aus seinen Träumen kommt Erwin nie ganz hervor, doch er erwacht zusehends auf seinem Weg nach Hause. Sein Zuhause – das ist die Sprache seiner Mutter, die Melodie ihrer Sprache, ihr Rhythmus, ihre Stimmfärbung. In Eretz Jisrael aber wird es verpönt sein, deutsch zu sprechen. So deutet alles auf Wandlung hin, auf schmerzhafte Wandlung und Abschied von Zuhause, der sich Schritt für Schritt vollzieht und für Erwin die Härte des Verrats an seinen Eltern annimmt.

Die Wandlungen sind gründlich: Sein Name Erwin wird ersetzt durch Aharon, wogegen er sich wehrt (62 f.), doch es hilft ihm nichts. Er schindet sich körperlich ab, und es schmerzt ihn. Er beginnt Hebräisch zu lernen, die Melodie war neu, es „war die Sprache der Berge, wortkarg und schnörkellos“ (81). Er lebt in einem Land, das, ähnlich wie es schon im Buch Josua zu lesen ist (Jos 2), seine Bewohner frisst (147) und erleidet während einer militärischen Aktion eine schwere Beinverletzung; wochenlang bleibt unklar, ob er je wieder wird gehen können. So durchlebt Aharon auf seine Weise in den Jahren 1946–1948 die Geschichte des biblischen Josua.

Doch das Entscheidende geschieht dadurch, dass der kämpfende Appelfeld sich mit dem Erlernen der hebräischen Sprache in das Land Israel gleichsam hineinbohrt. Er schreibt biblische Texte ab, lernt und beginnt, selbst in Hebräisch zu schreiben.

„Plötzlich kam die Melodie zurück, die meine Finger auf dem Papier weitergetrieben hatten, und ich wusste, dass das Tor, das mir den Weg versperrt hatte, gesprengt worden war. Ab jetzt musste ich die Steine behauen. – Da hörte ich die Stimme meiner Mutter […]“ (278).

In vielen Nächten hatte er von der Heimkehr geträumt; jetzt findet er in der neuen Melodie des Hebräischen nach Hause. Auch seine Mutter empfiehlt ihm in einem letzten Traumbild, das Zuhause nicht an den verlorenen Orten zu suchen, sondern da, wo er jetzt lebt und schreibt, in Israel, in der hebräischen Sprache:

„Warte, mein Lieber, bis dein Vater aus den Lagern zurückgekommen ist. Du darfst nicht allein losziehen, dort ist es kalt und gefährlich. Bleib vorläufig da, wo du bist, und lass die fernen Orte zu dir kommen“ (285).

Diese Weisung der Mutter bildet den Kern des gesamten bisherigen Werkes Aharon Appelfelds, in dem Flucht, Eretz Jisrael und viele, viele Zugfahrten an für Juden erloschene und immer noch gefährliche Orte zentral waren. In diesem großen Roman kommt er endlich nach Israel, hier kommt er unerwartet und doch erhofft nach Hause durch die neue und zugleich aus biblischen Zeiten stammende Melodie des Hebräischen, in der er Klang und Rhythmus der Muttersprache wieder vernehmen kann.

Mirjam Presslers Übersetzung ist gut und flüssig, wenn auch nicht immer dem Rhythmus des Hebräischen nahe. Die zu Beginn zitierte Passage könnte etwa so lauten:

„Die Wellen der Dunkelheit trugen mich auf ihrem Rücken, und ich kam voran. Wohin komme ich?, fragte ich mich selbst. Nach Hause, antwortete ich, überrascht von dieser Antwort.“

Die Metapher des Tragens wäre markanter und entspräche genau dem, was der Schlafende, wohl auf dem Rücken getragen, erfahren hat; der Parallelismus zwischen der Bewegung (wohin komme ich) und dem Ziel (nach Hause) wäre deutlicher; und die Überraschung spielte, wie das ganze innere Gespräch, gleichfalls im Innern des Schlafenden und bliebe zunächst auch dort wie seine Sehnsucht, nach Hause zu kommen. Doch dieser Hinweis mindert die Mühe der gelungenen Übersetzung nicht. Man darf dankbar sein, dass dieser Roman Appelfelds doch relativ rasch für deutschsprachige Leser zugänglich wurde.

Wolfgang Treitler, Wien


Jahrgang 19 / 2012 Heft 4 S. 301−302

 



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