Die neue Sicht der christlichen Bibel
Eine rein christologische Lektüre des Alten Testaments oder gar die Infragestellung der Bedeutung dieses Kanonteils für christliches Leben und christlichen Glauben überhaupt sind alles andere als rein historische Phänomene. Die Anerkennung des Eigenwertes nicht nur der Hebräischen Bibel für das Judentum, sondern auch des Alten Testaments für das Christentum ist auch im 21. Jh. noch bei weitem nicht zur selbstverständlichen Denk-, Glaubens- und Arbeitsweise in der christlichen Theologie geworden. So gesehen trägt Crüsemanns Monografie einem geradezu sträflich vergessenen Desiderat Rechnung und stellt ein längst fälliges Bekenntnis dar. Dafür ist ihm zu danken.
Nach einem kurzen Abriss der Geschichte der Verhältnisbestimmungen von Altem und Neuem Testament (31–90) geht der Verfasser in einem ersten Hauptteil auf die Hermeneutik der jüdischen Bibel als „Schrift“ des Neuen Testaments ein, wobei er gleich zu Beginn klarstellt, dass der gesamte Handlungs- und Argumentationsrahmen aller (!) neutestamentlichen Schriften die Schrift und Tradition Israels als alleinige Verstehensgrundlage voraussetzt. Das gesamte Jesusereignis inklusive seiner Deutungen bliebe ohne Kenntnis des Alten Testaments völlig ohne Fundament und unverständlich im leeren Raum stehen.
In diesem Zusammenhang kann Crüsemann überzeugend zeigen, dass das Neue Testament vom ersten bis zum letzten Vers von Bezugnahmen auf das Alte Testament lebt und daher eben gerade nicht das Alte im Lichte des Neuen, sondern das Neue im Lichte des Alten Testaments gelesen und verstanden werden muss. „Das Neue Testament [...] ist eine Fortsetzung, deren Anfang man kennen muss“ (95), und er kommentiert auf erfrischende Weise Mt 5,17–19 aus der Bergpredigt, als Jesus sagt, dass er nicht gekommen sei, die Tora außer Kraft zu setzen, sondern sie zu erfüllen, mit den Worten: „Eigentlich ist damit alles gesagt“ (101).
Breiten Raum in diesem Teil (152–191) widmet der Verfasser schließlich der Frage des Verhältnisses der Bünde (Neuer versus Alter Bund), wobei er deutlich darauf verweist, dass sämtliche neutestamentlichen Stellen, die vom Neuen Bund reden (auch das Becherwort bei Lk und in 1 Kor 11!) letztlich eindeutige Bezugnahmen auf Jer 31 (bzw. Jer 38 nach der Septuaginta) sind, wo es um die endgültige Einschreibung der Tora in die Herzen der Menschen geht; mit anderen Worten: Diese Tora soll endlich sichtbare Gestalt im Leben der Glaubenden annehmen. Klar und unmissverständlich zieht Crüsemann daraus den – an sich logischen – Schluss, dass jegliche christliche Interpretation des Neuen Bundes als Bund Gottes mit der Kirche letztlich nicht nur bibeltheologisch unzulässig, sondern im Kern antijudaistisch ist und sein muss (vgl. 189).
Der zweite Hauptteil (229–341) fragt nach der Verhältnisbestimmung des Gottes der Hebräischen Bibel und der Messianität Jesu. Dabei sind vor allem die Überlegungen des Verfassers zu den sogenannten „Erfüllungszitaten“ in den Evangelien von bemerkenswerter exegetischer Feinfühligkeit geprägt. Er plädiert mit Recht dafür, pleróo nicht mit „erfüllen“, sondern mit „bestätigen“ wiederzugeben. Dadurch wird einerseits das verhängnisvolle Denken im prophetischen „Verheißungs-Erfüllungs-Schema“ von vornherein vermieden, andererseits das Anliegen Jesu, der Schrift Israels mit seinem Leben und Lehren gerecht zu werden und zu entsprechen, deutlicher und unmissverständlicher zum Ausdruck gebracht (vgl. 255 f.). Jesus lebt viel mehr voll und ganz in der Tradition seiner Schrift und setzt diese Schrift durch sein Leben und Wirken gleichsam vollmächtig in Kraft.
Das Schlusskapitel bringt ein Grundanliegen, das Crüsemann bis dahin nie explizit ausgesprochen hat, das aber implizit immer spürbar war, zur direkten Entfaltung: Für die christliche Einschätzung der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament darf nie die nachbiblische, kirchlich- theologische Wirkungsgeschichte und Tradition ausschlaggebend sein, sondern „theologisch ist dieses Verhältnis nur biblisch und das heißt aus den innerbiblischen Beziehungen neu zu gewinnen“ (341). So versteht er auch das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen: Es ist – christlich gesprochen – „die Schrift der Schrift“ (341) und als solche will und muss es auch ernst genommen werden.
Ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis (343–375) sowie ein hilfreiches Bibelstellenregister runden die Studie ab. Das Fehlen eines prägnanten Schlusskapitels, in dem die wesentlichen Argumente und Ergebnisse noch einmal zusammengefasst werden, tut dem prinzipiell unschätzbaren Wert dieses Buches keinerlei Abbruch. Crüsemanns Studie war längst fällig und ist allen christlichen Theologen dringendst empfohlen; vor allem aber schreien die im Werk geforderten Konsequenzen nach einer Verinnerlichung.
Andreas Vonach, Innsbruck
Jahrgang 19 / 2012 Heft 4 S. 305−306