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Andreas Ludwig / Kurt Schilde

Jüdische Wohlfahrtsstiftungen

Initiativen Jüdischer Stifterinnen und Stifter zwischen Wohltätigkeit und sozialer Reform

Dieses Buch dokumentiert Forschungsergebnisse des Arbeitskreises „Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland“ über die biografischen, regionalen und systematischen Aspekte der Anfänge jüdischer Sozialarbeit in Deutschland. Das internationale Team von Wissenschaftlern aus den verschiedensten Disziplinen beschreibt „die gesamte Breite von Initiativen des jüdischen Bürgertums für wohltätige Zwecke“ (9).

Nach einer Einführung zum Thema „Jüdisches Mäzenatentum zur Förderung wohltätiger Zwecke“ folgen Einzeldarstellungen – zunächst zum Themenbereich „Städtische und regionale Stiftungslandschaften“ (z. B. über jüdische Stiftungen in Wien, Breslau, Berlin, Hamburg oder Krefeld). Danach wird über „Betriebsbezogene soziale Stiftungen“ berichtet (über das breitgefächerte soziale Engagement des Kaufhauses Nathan Israel in Berlin und über die Stiftung für die Versorgung der weiblichen Beschäftigten bei der AEG im Kaiserreich) und anschließend über „Die zwangsweise Auflösung der jüdischen Stiftungslandschaft“ (am Beispiel der Stadt Frankfurt und ihres reichhaltigen Stiftungswesens). Abgerundet wird der Band durch die Abbildung einiger exemplarischer Dokumente sowie durch eine ausführliche Bibliografie.

Das freiwillige soziale Engagement ist ein charakteristisches Merkmal jüdischer Bürger und hat sich überproportional zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entwickelt. Es ist Ausdruck eines für das Judentum typischen Gerechtigkeits- und Reformstrebens, wie es beispielsweise in den acht Stufen der Zedaka nach Moses Maimonides zum Ausdruck kommt (vgl. S. 7). Neben kleinen Stiftungen, die auf einen begrenzten Personenkreis und Stiftungszweck ausgerichtet waren, gab es eine Fülle von Stiftungen, die mit erheblichem Kapital ausgestattet waren. Es gab ein Stiftungswesen, das auf die Förderung der innerjüdischen Wohlfahrt ausgerichtet war – ebenso wie Stiftungen, die Empfänger unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit begünstigten.

Die Stiftungen haben Lücken im damals vorhandenen Sozialsystem zu schließen versucht; etliche von ihnen waren in ihrer Ausrichtung auch innovativ und zukunftsorientiert und haben vor allem Bedürftige im Blick gehabt, die im Allgemeinen unberücksichtigt blieben (etwa alleinerziehende Mütter mit unehelichen Kindern). Durch ihr Engagement haben diese Stiftungen nach und nach zu einem Bewusstseinswandel beigetragen, sodass die jüdischen Stifter als innovative Kraft für die Humanisierung der Gesellschaft anzusehen sind.

Umso tragischer ist es, wie das jüdische Stiftungswesen unmittelbar nach 1933 dem nationalsozialistischen Staat zum Opfer fiel. Weil hier immense Geldsummen zu holen waren, zögerte die NS-Diktatur nicht, die jüdischen Stiftungen zu vereinnahmen. Dabei ging man schrittweise vor: Zunächst wurden alle Stiftungen, die nicht ausschließlich „deutschen Volksgenossen“ zugute kamen, steuerpflichtig; danach versuchte man, interreligiöse Stiftungen in einen jüdischen und einen „arischen“ Teil aufzuspalten. Die Stiftungsvorstände und Kuratorien wurden bei Neubesetzungen mit NSDAP-nahen Personen infiltriert; schließlich wurden jüdische Stiftungen auf „deutsche Volksgenossen“ übertragen. Gerade in der NS-Zeit, wo die jüdische Bevölkerung in den großen Städten immer mehr verarmte, war der Wegfall der stiftungsgebundenen Versorgungsleistungen verhängnisvoll. Nach der Reichspogromnacht wurden alle Institutionen der jüdischen Wohlfahrtspflege zwangsweise vom Staat übernommen.

Die jüdischen Stiftungsnamen wurden getilgt, um das Andenken an die Stifter systematisch auszulöschen. Die Verantwortlichen wurden erst als Befehlsempfänger eingesetzt und wenige Jahre später deportiert und ermordet. Eine Rückgabe der Stiftungen nach 1945 erfolgte nur in seltenen Ausnahmefällen, wie z. B. in Frankfurt: „Von den überaus zahlreichen Stiftungen jüdischer Stifter, die es vor 1933 gab, existierten 1986 lediglich noch 15. Die Stadtverwaltung Frankfurt wurde für ihre Aktivitäten bei der Zerstörung des umfangreichen Stiftungswesens jüdischer Frankfurter nie zur Rechenschaft gezogen und hat sich damit auch bisher nie öffentlich auseinandergesetzt“ (251).

Zur Geschichte jüdischer Sozialarbeit und Wohlfahrt in Deutschland ist dieses Buch eine lesenswerte Quelle. Allenfalls könnte kritisch angemerkt werden, dass die Informationen bisweilen zu kleinteilig sind (z. B. auf S. 153 die Auflistung von ausgezahlten Beträgen auf Mark und Pfennig genau). Wiederholungen hätten die Herausgeber durch Kürzungen zuvor kommen können. Dennoch wird hier ein beeindruckendes Bild jüdischer Bereitschaft zum Engagement gezeichnet – in einer Gesellschaft, die Juden ihren Lebensraum verwehrt hat und an diesem Verlust bis heute leidet.

Jutta Koslowski, Gnadenthal


Jahrgang 20 / 2013 , Heft 2, S. 145−146.

 



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