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Michaela Christ

Die Dynamik des Tötens

Die Ermordung der Juden in Berditschew. Ukraine 1941–1944

Am 15. September 1941 erschossen die Deutschen vor fünf großen Gruben auf einem Flugfeld am Rande von Berditschew ca. 12 000 Juden. Damit löschten sie – etwas mehr als zwei Monate nach ihrem Einmarsch in die Sowjetunion – auf einen Schlag fast die gesamte verbliebene jüdische Bevölkerung einer Stadt aus, die lange Zeit als „jüdische Hauptstadt“ der Ukraine gegolten und trotz Revolution und Stalinismus ihren jüdischen Charakter nicht verloren hatte. Genau 70 Jahre später erscheint die vorliegende Studie von Michaela Christ.

In der Bibel sind 70 Jahre die Frist des Exils (Jer 25,11–12; 29,10; 2 Chr 36,21; Dan 9,2.24), und in gewisser Weise öffnet Christ die Gräber im „Tal der Gebeine“ (Ez 37). Aber die 70 Jahre haben einen prosaischen Grund. Offensichtlich muss die Tätergeneration verschwinden, ehe die Täterforschung ernsthaft beginnen kann. So erschien 1992 die bahnbrechende Studie von Christopher R. Browning, „Ganz normale Männer“, und 1993 bzw. 2003 erschienen die einschlägigen Publikationen der Gutachter der Promotion von Michaela Christ, „Männer der Praxis“ (Harald Welzer) und „Die Generation des Unbedingten“ (Michael Wildt).

Die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung (1995) und Daniel Jonah Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ (1996) erhitzten die Gemüter noch 50 Jahre nach Kriegsende. Der Waschzettel zum Buch von Christ ist jedoch nicht ganz richtig; man kann nicht sagen: „Dies ist die erste ausführliche Studie über den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung einer Stadt.“ Hier sollte man das Buch von Elisabeth Freundlich, „Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau. NS-Vernichtungspolitik in Polen 1939–1945“, Wien 1986, nicht vergessen.

Der Holocaust in der Ukraine hat in den letzten Jahren vor allem durch die Feldforschung des französischen Priesters Patrick Desbois Schwung gewonnen („Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche“, Berlin 2009), der allerdings nicht bis Berditschew kam. Aber auch über die Ermordung der Juden in Berditschew ist schon früher ausführlich berichtet worden. Bereits im Dezember 1944 hat Wassili Grossman aus Berditschew, dessen Mutter dort erschossen wurde, die Zeugnisse von Überlebenden gesammelt und den Tathergang rekonstruiert. Sein Bericht, „L’assassinat des juifs de Berditchev“, findet sich in dem von ihm und Ilja Ehrenburg herausgegebenen Schwarzbuch, das 1947 von der sowjetischen Zensur beschlagnahmt wurde und 1995 auf Französisch erschienen ist (83–96). Ausführlicher sind die Quellen über das Massaker seither nicht geworden.

Allerdings ist die Studie von Michaela Christ mehr als nur ein Bericht über die Ermordung der Juden dieser Stadt und auch mehr als eine Fallstudie über die Ermordung der Juden in der „Ukraine 1941–1944“. Es handelt sich um eine sozialwissenschaftliche, ja, sozialphilosophische These über Gewalt, Macht und Herrschaft und wie diese sich im eroberten Raum und in die „verletzungsmächtigen“ und „verletzungsoffenen“ Körper einschreiben. Die Arbeit überprüft Theoreme von Erving Goffman, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Sander Gilman und immer wieder von Wolfgang Sofsky und Heinrich Popitz. Dabei schweift die Autorin aber niemals ab, ihr analytischer Blick ist geradezu hypnotisch auf die Vorgänge in Berditschew fixiert, sie demonstriert ihre Arbeitshypothesen an ihrem Gegenstand und gewinnt den wenigen Quellen erstaunlich viel ab. Das „Töten“ und die „Qualen“ an den Gruben freilich „entziehen sich der Beschreibung“ weitgehend (186).

Die Verfasserin interessiert auch mehr die „Gewaltdynamik“, die unerbittlich bis an den Rand der Gruben führte, das Töten vor dem Töten durch Stigmatisierung und Isolierung der Opfer, durch Eskalation der Gewalt und Treibjagd der Täter. Dabei stellt Michaela Christ den Massenmord in den Kontext eines utopischen Germanisierungsprogramms, wie schon zuvor Wendy Lower in seiner Studie über die deutschen Kolonialträume in Jitomir (2005) – „Entjudung“ und Germanisierung sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

Die Rekonstruktion des Prozesses, der die Juden von Berditschew letztendlich gemordet hat, läuft mit unerbittlicher Konsequenz vor unserem Auge ab. Wie unausweichliche Wegstationen stehen die kurzen Titel da: „Ghettoräumung“, „Selektion“, „Unterwegs“, „Bereicherung“, „Fluchtversuche“, „Gewalträume“, „Töten“, „Jagd“, „Plündern“. Einen „Zivilisationsbruch“ kann man nirgendwo erkennen, der Weg der Juden von Berditschew vollzieht sich nach den ehernen Gesetzen eingeübter zivilisatorischer Machttechniken und Gewaltpraktiken, – und was ist ein sprechenderes Zivilisationsemblem als das Erjagen und Erlegen der Bestie (192–196)?

Der Vorwurf, der sich bei der Lektüre aufdrängt, dass die Juden von Berditschew nur auferweckt werden, um die neuesten Machttheorien zu verifizieren, trifft nicht zu. Die Verfasserin versetzt sich im Gegenteil mit viel Empathie in die Lage der Opfer und versucht ihre Reaktion auf das rasante Verfolgungstempo und den sich zunehmend einengenden Spielraum zu ermessen. Den Leser selbst ergreift das beklemmende Gefühl, von einem schrecklichen Räderwerk erfasst und zermalmt zu werden.

Um ein wenig Abstand zu gewinnen, wollen wir mit einem Wort des Rabbi Levi Jizchak Berditschewer schließen, den auch Christ gleich am Anfang erwähnt:

„Den Spruch: ‚Gedenke dessen, was dir Amalek angetan hat’ (Dtn 25,17), legte er so aus: Weil du ein Mensch bist, ist es dir erlaubt, zunächst dessen zu gedenken, was die Macht des Bösen dir selber angetan hat. Steigst du aber zur Stufe der Gerechten und wird deinem Herzen Ruhe betreffs all deiner Feinde ringsum, dann ‚wirst du das Gedächtnis Amaleks unterhalb des Himmels auslöschen’ (Dtn 25,19) und wirst nur noch dessen gedenken, was die Macht des Bösen dem Himmel angetan hat […]“ (Martin Buber, „Die Erzählungen der Chassidim“, Zürich 1949, 363).

Daniel Krochmalnik, Heidelberg


Jahrgang 20 / 2013 Heft 3, S. 213−215

 



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