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Klaus Kempter

Joseph Wulf

Ein Historikerschicksal in Deutschland

Joseph Wulf (1912–1974) ist ein Pionier der Holocaust-Forschung – und heute weitgehend vergessen. Als Jude hatte er die Deutschen in den 50er und 60er Jahren über ihre Verbrechen unter dem Nationalsozialismus aufklären wollen. Vergeblich hatte er als Staatenloser (Überlebender) gehofft, Anerkennung im Land der Mörder zu finden, vergeblich als Privatforscher gegen den Standesdünkel von Wissenschaftlern gekämpfte. Joseph Wulf blieb ein Einzelgänger, ein Außenseiter, isoliert und auf verlorenem Posten. Im Oktober 1974 nahm Wulf sich das Leben; er wurde nur 61 Jahre alt.

Der Historiker Klaus Kempter hat nun zum 100. Geburtstag Joseph Wulfs (am 22. Dezember 2012) die erste umfassende, in drei Teile gegliederte, biografische Studie zum Leben und Werk Wulfs vorgelegt. Im ersten Teil geht Kempter den dünnen biografischen Spuren Wulfs nach (Dokumente des Ostjudentums sind zu großen Teilen vernichtet!).

Wulf kam in Chemnitz zur Welt, wuchs aber in Krakau auf. Er beteiligte sich am jüdischen Widerstand im Krakauer Getto, überlebte zwei Jahre Lagerterror in Auschwitz, gelangte schließlich über Paris in seine deutsche Sprachheimat. Seit 1952 lebte Wulf ausgerechnet in der ehemaligen Reichshauptstadt. Auf seinem Schreibtisch in West-Berlin stand die Mahnung: Erinnere dich an die sechs Millionen! Wulf hatte seinen Auftrag gefunden, es wurde zur Lebensaufgabe. Rasch wurde er damit vom Aufklärer zum Störenfried in der Bundesrepublik Deutschland.

Im zweiten Teil gibt Kempter einen Überblick über Wulfs umfangreiche Publizistik. Zwischen 1955 und 1964 veröffentlichte Wulf sechzehn Dokumentationen und Monografien zum Dritten Reich, darunter Titel wie „Das Dritte Reich und die Juden“, „Das Dritte Reich und seine Denker“, „Das Dritte Reich und seine Vollstrecker“ sowie 1963 die monumentale fünfbändige Dokumentation zur Verstrickung der Kultur im Dritten Reich.

Wulf dokumentierte nicht Extremfälle, wie er selbst betonte, sondern das Typische und Alltägliche, das Beispielhafte – und immer galt sein Hauptaugenmerk der organisierten Vernichtung. Es waren sehr schmerzhafte, verstörende Dokumentationen, denn Wulf ließ die Originalschriften für sich stehen. Wer lesen wollte, konnte spätestens jetzt Bescheid wissen und die Vernichtungsstrategien der Nationalsozialisten an Einzelbeispielen erkennen.

Im dritten Teil beschreibt Kempter die „Existenzkämpfe eines Privatgelehrten“ und sein Scheitern. Am 2. August 1974 schrieb Wulf an seinen Sohn David: „Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen“ (384).

Eine letzte große Enttäuschung für Wulf war, dass seine 1965 begonnene Initiative um die Wannsee-Villa im Sande verlief. Es sollte ein „Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen“ entstehen, und zwar just in jenem historischen Gebäude, in dem am 20. Januar 1942 die berüchtigte Wannsee-Konferenz stattgefunden und die sogenannte Endlösung der Judenfrage beschlossen worden war. Wulf fand viele Unterstützer für sein Vorhaben, auch im Ausland. Doch der West-Berliner Senat unter dem Re220 gierenden Bürgermeister Klaus Schütz war dagegen. Das Haus der Wannsee- Konferenz wird erst seit 1992 als Gedenk- und Bildungsstätte genutzt.

Klaus Kempter hat eine materialreiche Studie vorgelegt, die verdeutlicht, auf welch tragische Weise Wulf seiner Zeit voraus war, und die der Historiker auch als „Kommentar zur bundesdeutschen Geistesgeschichte“ verstanden wissen will. Bis auf einige unnötige, im akademischen Milieu wohl unvermeidliche Fremdwörter liest sich das Buch weitgehend flüssig und anschaulich. Es ist eine Studie, die nicht nur Wulfs Leben und Werk wieder ins Licht rückt, sondern auch beschämend ist für alle jene, die den Privatforscher seinerzeit und bis in die jüngste Vergangenheit verleugneten.

Stefan Berkholz, Berlin


Jahrgang 20 / 2013 Heft 3 S. 218–220

 



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