Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens
Alle Jahre wieder gibt es ihn: den Gedenktag 27. Januar, im Jahr 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum nationalen Gedenktag erklärt, in Erinnerung an den Tag der Befreiung des Todeslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. Von der breiten Öffentlichkeit kaum bis intensiv wahrgenommen, – das hängt von der Familiengeschichte ab –, in den Schulen alle Jahre in verschiedenen Formen begangen.
Wie gestaltet man einen Gedenktag jedes Jahr aufs Neue, ohne in Riten zu erstarren, die Lehrende wie Lernende bald als lähmend empfinden? Karin Weimann schildert anschaulich und umfassend, wie an der 1. Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik, Berlin, und der Berufs- und Fachoberschule für Sozialwesen in Berlin-Charlottenburg mit dieser pädagogischen Herausforderung umgegangen wird. Im ersten Teil erläutert sie, warum und wozu die Erinnerung bewahrt werden sollte. Dabei geht sie auch der Kritik an der „Erinnerungskultur“ nicht aus dem Weg und stellt die oft gehörten Fragen, ob die Deutschen mit ihren Ritualen vielleicht eine unstillbare Hoffnung auf Erlösung antreibt? Ob es in Deutschland inzwischen eine „Diktatur der Vergangenheit“ gibt? Oder ob man im öffentlichen Diskurs Erinnerung eher als „moralisch aufgeladene, eher diffuse Pathosform“ gebraucht?
Um dem entgegenzutreten, holt Weimann weit aus. Sie stellt zunächst kurz die „Gäste“, wie sie sie nennt, vor, hauptsächlich Überlebende verschiedener Opfergruppen, von denen beinahe die Hälfte seit Beginn der Gedenkveranstaltungen bereits verstorben ist. Als Nächstes beschreibt sie die minutiöse Planung der Gedenkveranstaltung und zeigt, welche Fragen die Organisatoren – meistens sind es jedes Jahr dieselben, die sich hier engagieren – sich stellten. Zu berücksichtigen sind dabei nicht nur die „Gäste“, die gebeten werden, aus ihren Lebenserinnerungen zu lesen bzw. von ihren Erfahrungen zu erzählen, sondern so profane Dinge wie die Gestaltung des Foyers der Schule, das Sammeln von Spenden zur Kostendeckung und ein Fahrdienst für gehbehinderte Gäste. Damit ein würdig gestalteter Gedenktag gelingt, muss es auch beim Profanen klappen.
Teil 2 der Arbeit gilt den „Reflexionen“. Wieder einmal ist es die Sprache, die verräterisch ist. Mithilfe der Sprache – das meine auch ich – distanziert man sich von den Ereignissen zwischen 1933 und 1945, gibt ihnen eine andere Bedeutung und stellt sie anders dar, als sie gewesen sind. Hinzu tritt die Moral, denn, so Weimann, selbst totalitäre Regimes sind nicht frei von Moral, nur dass für sie eben ihre ganz eigene gilt. Sie erinnert an Heinrich Himmler und seine berüchtigte Rede am 4. Oktober 1943 vor SS-Generälen in Posen: „So können wir insgesamt sagen, dass wir diese schwere Aufgabe [d. h. die Ermordung von jüdischen Frauen, Kindern und Männern, K.W.] in Liebe [sic! M.M.] zu unserem Volk erfüllt haben“ (113, Anm. 2).
Als Nächstes spricht Weimann von „Komplementarität“. Darunter versteht sie, dass Beziehungen zwischen Menschen sich durch unterschiedliche Verhaltensweisen ergänzen und bedingen und so den Interaktionsprozess bewirken (120 ff.): Sowohl die Zufügenden als auch die Erleidenden sind in ihrem Menschsein verletzt. Die einen wissen – und erleiden es. Die anderen wissen es nicht – und wollen es auch nicht wissen. Damit stellt sich die Frage: Was ist hier komplementär? Kann es da überhaupt eine Brücke geben? Die Überlebenden, betont Weimann, können ihr Leben nicht so führen, als sei nie etwas geschehen, und das gilt auch für ihre Nachkommen. Die Verursachenden und ihre Nachkommen lehnen bis heute eine Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung ab. Man hat es satt, „von damals“ zu hören. Inzwischen sind aus den Besiegten und ihrer totalen Niederlage die „Befreiten“ geworden, wie Richard von Weizsäcker es in seiner Rede 1985 zum 8. Mai 1945 sagte.
Schwer erträglich ist nicht nur für Karin Weimann die Selbstexkulpation der Täter und ihrer Helfer und Mitläufer. Es fallen Namen wie Martin Heidegger und Carl Gustav Jung, Konrad Adenauer und Willy Brandt. Die beiden Letzteren relativieren den durch die nationalsozialistische Gewalt ausgeübten Druck als mäßig, verglichen mit den Repressionen, denen die Menschen in der „Ostzone“ ausgesetzt waren (172) oder vergleichen gar die in der DDR eingesperrte Bevölkerung mit den Konzentrationslagern und ihren Insassen (173)! Für andere ist das deutsche Volk Opfer, verführt – wie es der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sieht, aber auch der Filmemacher Volker Schlöndorff, für den die „Begeisterungsfähigkeit der Deutschen“ durch die „Nazis missbraucht“ wurde (180).
Immer wieder erwähnt Weimann, dass weder für die Überlebenden noch für ihre Nachfahren die Vergangenheit zu Ende ist, dass ihr Urvertrauen verloren gegangen ist. Da stellt sich notgedrungen die Frage: Und was ist mit den Tätern und mit den Kindern und Enkeln der Täter? Schweigen. Hohe Wände. Die Kinder der Täter wagten es nur selten, ihre Eltern zu fragen, was sie im Krieg getrieben haben, Mütter duldeten es nicht, dass Kinder am offensichtlichen verbrecherischen Verhalten des Vaters eine irgendwie geartete Kritik übten. Die Regel bestätigt hier nur die Ausnahme. Als Täter und Täterkind fühlt man sich in einem Dilemma befangen: Was wiegt stärker, der Wunsch nach Aufklärung? Oder aber der Wunsch nach Familienloyalität? In den meisten Fällen behält das Letztere den Vorrang. Was für ein Gegensatz zur Einstellung gegenüber der verflossenen DDR. Erst dieser Tage (Mitte März 2013) zitieren die Medien den Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, der Zulauf von Kindern und Enkeln zur Behörde sei so groß, dass inzwischen Wartezeiten von bis zu 2 Jahren einzurechnen sind, bevor Einblick in die Akten der Eltern oder Großeltern genommen werden kann.
Am Ende berichtet Karin Weimann von den Widerständen und Konflikten in der Schule, von Widerständen im Lehrerkollegium und den immer wieder aufbrechenden Konflikten zwischen Lehrenden und Lernenden, wenn es sich um Gedenken und Erinnern handelt. Man weiß das alles schon! Man will es nicht mehr hören! Martin Walser und seine „Moralkeule“ lassen grüßen. In ihrem Plädoyer eröffnet Weimann Ausblicke für die Zukunft und betont: Man dürfe nicht schweigen. Das Leben dürfe auch in Zukunft nicht „einfach so“ weitergehen (321): „Wir wollen nicht zu jenen gehören, die schweigen. Wir wollen hören und sprechen. Wir wollen die Wahrheit erben“ (320). Weimann ist, G-tt sei Dank, eine unverbesserliche Optimistin. Darum richtet sich Karin Weimann vor allem an Lehrerinnen und Lehrer, sind doch vor allem sie es, die aufklären können, wenn das Elternhaus nichts zu seiner Vergangenheit sagen kann oder will. Weimann sei Dank dafür, dass sie dieses anspruchsvolle und umfassende Werk ohne Wenn und Aber ganz unbürokratisch und schnell veröffentlicht hat. Dem Buch ist eine breite Leserschaft zu wünschen, legt es doch den Finger in eine noch immer offene Wunde.
Rezension von Miriam Magall, Berlin
Jahrgang 20 / 2013 Heft 3 S. 230–233