Josef Weiss – würdig in einer unwürdigen Umgebung
Lange war über die sogenannten Judenältesten in den Konzentrationslagern wenig bekannt, doch nicht selten wurden sie der Kollaboration verdächtigt. Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Der letzte der Ungerechten“ über den Judenältesten von Theresienstadt, Benjamin Murmelstein, und der vorliegende Titel von Hans-Dieter Arntz über den Judenältesten von Bergen-Belsen, Josef Weiss, widmen sich dem Ziel, zwei Männer, die diese Funktion innehatten, zu rehabilitieren. Die Forschungslücke beklagend, die er schließen will, schreibt Arntz:
„Claude Lanzmann drehte 1975/76 für seinen Dokumentarfilm ,Shoah’ auch in Rom und führte ein langes Gespräch mit Rabbiner Dr. Benjamin Murmelstein. Die wissenschaftliche Auswertung hätte schon damals das begründete Selbstverständnis eines Judenältesten konstatieren können. Aber das wurde leider unterlassen.“
Inzwischen hat Claude Lanzmann den Film „Der letzte der Ungerechten“ über Murmelstein beim Festival in Cannes (2013) vorgestellt. Gefragt, ob der Film eine Rehabilitierung leisten könne, sagte er:
„Das ist eine Frage der Gerechtigkeit [...]. Es geht um eine Wiedergutmachung, die ich leisten will. Der Film zeigt, dass es nicht die Juden waren, die ihre Brüder ermordet haben [...]“ (FAZ, 27. Mai 2013).
Der Untertitel, „Würdig in einer unwürdigen Umgebung“, hat eine Formel gefunden für das, was die große Zumutung des Buches sein muss, um die Hölle von Bergen-Belsen begreiflich zu machen. Denn, will man die Leistung von Josef Weiss in der ihm aufgezwungenen Aufgabe auch nur annähernd ermessen, muss die „Umgebung“ beschrieben werden, die die Würde jedes einzelnen dort in Frage stellte. Die Lektüre ist also eine Herausforderung, die unser Tribut ist an die größere Leistung des Autors: Würde und Verletzung der Würde darzustellen.
Zwei Schlaglichter sollen hier diese Lagerwelt aufzeigen. Arntz zitiert Anita Lasker-Wallfisch, die 1944 von Auschwitz nach Bergen-Belsen kam:
„Es gab nichts mehr zu essen. Ich habe Erinnerungen an einen Mann, der auf den Knien lag – zur Strafe – mit einem menschlichen Ohr im Mund. Kannibalismus hatte begonnen.“
Und der Bergen-Belsen-Überlebende Werner Weinberg berichtet von der Reaktion eines gerade aus Auschwitz angekommenen Mannes:
„‚Einen fürchterlichen Schweinestall habt ihr hier’, fluchte der Neuankömmling, ‚Kadaver und Muselmänner überall! In unserem Lager hätte es das nicht gegeben.’ Muselmann war in der Lagersprache die Bezeichnung für einen Menschen, dessen Gewicht unter das Mindestmaß gesunken war, der nicht mehr fühlen, denken, sprechen oder etwas empfinden konnte. ‚In Auschwitz gab es keine Muselmänner!’ brüstete sich der Mann vor mir. ‚Die waren die ersten, die in den Kamin hinaufgeblasen wurden!’ [...] ‚Auschwitz war hygienisch’, sagte der Mann voller Stolz. ‚Da wurde aufgeräumt!’“
Der Dichter Reinhold Schneider schrieb in seiner 1946 erschienenen kleinen Schrift „Von der Würde des Menschen“ auch über die Verbrechen der Nationalsozialisten, die nicht nur dem einzelnen Menschen die Würde nehmen wollten, sondern gleichzeitig die Ebenbildlichkeit leugneten:
„Wir können der Sprache solcher Greuel nicht ausweichen, ist es doch unser inständiger Wunsch, dass sie nicht allein Gerechtigkeit und Strafe herausfordern, sondern Einsicht und Wende, innerste Wandlung. Was hier am Menschenbild gesündigt wurde, das fordert einen neuen heiligen Entschluß, das Menschenbild zu wahren und zu erhöhen.“
Hans-Dieter Arntz schildert, wie Josef Weiss inmitten täglicher Angriffe auf die Würde der Insassen von Bergen-Belsen „das Menschenbild zu wahren“ versuchte, und wie es ihm in zahllosen Fällen gelang, Leben zu retten, Not zu lindern und die Menschen auch geistlich aufzurichten.
Am Sederabend im März 1945 besuchte Josef Weiss alle Baracken und Abteilungen des jüdischen „Sternlagers“ und sprach den Menschen Mut zu. Zuerst habe er Scheu gehabt, den Satz aus der Haggada zu zitieren, „Jeder, der komme, esse mit uns!“ Denn:
„Ich kann euch kein Brot geben, nur mit Worten kann ich euch Mut zusprechen [...]. Wir gehören zu den wenigen europäischen Juden, die dieses Völkermorden vielleicht überdauern werden.“
Josef Weiss überlebte und schrieb auch selbst über diesen letzten Sederabend im Lager, wo die Hoffnung auf Errettung aus der Gefangenschaft noch einmal entfacht wurde. Er verfasste nach Kriegsende zwar Berichte für die Alliierten, doch schrieb er nie seine Erinnerungen auf. Im Epilog schreibt Arntz:
„Josef Weiss war wahrscheinlich zu bescheiden oder aufgrund der Nachkriegs-Reaktionen enttäuscht. Ich glaube sogar erkannt zu haben, dass er schließlich die Ansicht vertrat, dass sich vieles – unter anderen Vorzeichen – jederzeit wiederholen könnte.“
In Deutschland war Weiss vergessen, doch in Holland und in Israel, wohin er 1948 ausgewandert war, genoss er großes Ansehen. 1976 verstarb er in Jerusalem.
Nur weil sich so viele Überlebende seiner dankbar erinnerten, konnte ein Bild des Menschen Josef Weiss und seiner außergewöhnlichen Bewährung entstehen. So erfuhr Arntz von Josef Weiss’ Sohn Klaus-Albert:
„Sogar die Nazis akzeptierten ihn, ja, sie respektierten ihn sogar! [...] Es gab einen Verbrecher mit Namen Lübbe, der früher einmal Lehrer war. Ich entsinne mich seiner Frage: Was ist der Unterschied zwischen ‚Jehovah’ und ‚Jahveh’? [...] Also da saßen der Jude Weiss, Repräsentant des alten Volkes, und der Nazi Lübbe, Judenausrotter im Namen des Herrenvolkes, und philosophierten über Gott. Jeder über seinen Gott. Zum Schluss sagte Lübbe: ‚Herr Weiss, ich habe schon lange nicht mehr eine so interessante Diskussion geführt.’ – Ich wollte meinen Ohren nicht trauen.“
Arntz schildert Kindheit, Jugend und Karriere (als Textilkaufmann) des 1893 geborenen Weiss, der 1933 mit seiner Familie in die Niederlande auswanderte. 1942 wurde er mit seiner Frau und einem seiner beiden Söhne – einer konnte untertauchen – im Lager Westerbork interniert und von dort in das Austauschlager Bergen-Belsen deportiert, das damals noch für Geiseln gedacht war und sich erst später durch den Kriegsverlauf in die Hölle verwandelte, die die Alliierten bei der Befreiung vorfanden.
Ein Kapitel hat Arntz dem Thema Überleben und den „verdächtig“ scheinenden Überlebenden gewidmet. Er zitiert einen Häftling aus Bergen-Belsen, Werner Weinberg:
„In seinem Buch ‚Wunden, die nicht heilen dürfen’ vertritt er die Ansicht, dass das Holocaust-Überleben zeitlich unbegrenzt und negativ klassifiziert ist: ‚Ein Überlebender des Krieges ist ein Veteran […]. Aber ein Überlebender des Holocaust ist geradezu ein Widerspruch in sich selbst, denn ein Ganzopfer lässt keine Überreste [...]’.“
Hans-Dieter Arntz hat Josef Weiss seine Würde zurückgegeben, indem er ihn, der „würdig in einer unwürdigen Umgebung“ blieb, dem Vergessen entriss.
Rezension von Bettina Klix, Berlin
Jahrgang 21 / 2014 Heft 2 S. 128–130