Von der Hebräischen Bibel inspiriert, in jüdischer Literatur weitergedacht
Die Frage nach dem Bösen ist so alt wie der Glaube an das Göttliche. Für die biblischen Autoren und Redaktoren reichte diese Frage über den Bund Gottes mit Israel zurück an den Anfang der Menschheit und über diesen Anfang nochmals zurück an den Anfang der Schöpfung, aber auch in die Geschichte Israels und seines Bundes hinein. Damit wird ein universales Panorama geöffnet, das aus Israels Überlieferung kommt und der Geheimnishaftigkeit des Bösen ebenso entspricht wie den drückenden und manchmal lebensgefährlichen Erfahrungen mit ihm. Gabrielle Oberhänsli-Widmer hat in ihrem Buch diesen Rückgang der biblischen Tradition in der Frage des Bösen auch in textlicher Hinsicht kenntlich gemacht: Geschichten aus diesem Bereich werden alle den nichtpriesterlichen Schriften zugerechnet (199), liegen damit zeitlich vor dem Babylonischen Exil und textlich alle in Bereschit/Genesis (12).
Oberhänsli-Widmer hat ihr Buch in sieben Abschnitte gegliedert, in denen jeweils eine biblische Geschichte aufgenommen wird, die mit dem nennbaren, aber unergründlichen Bösen zu tun hat: Die Geschichten vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (17–37), von Leviathan und Behemoth (39–67; dieser Abschnitt wurde vorweg schon im Jahrbuch für Biblische Theologie publiziert; 39), von Kain (69–92), dem Fall der Engel (93–123), dem bösen Trieb (125–148), der Bindung Isaaks (149–169) und schließlich von Esau (171–196).
Die Erarbeitung der jeweiligen Abschnitte folgt einem klaren Konzept: Ausgehend von der Darlegung des biblischen Textes, befasst sich Oberhänsli-Widmer mit Aspekten der folgenden rabbinischen Diskussionen und beendet das jeweilige Bild mit Rezeptionen in der israelischen Kunst, v. a. in der Dichtung, die häufig eine erfahrungsgesättigte Gegenlektüre der biblischen und rabbinischen Leitlinien betreibt. Nur im fünften Abschnitt, der sich mit dem bösen Trieb beschäftigt, bringt sie gegen Ende keine zeitgenössisch-israelische Kunst ein, sondern Sigmund Freud (145–147) und ein Statement eines Jeschiva-Studenten (148).
Durch diese Bögen gelingt es der Autorin nicht nur, Spannung zu erzeugen und zu halten – auch ihr guter Schreibstil trägt das Seine dazu bei –, sondern vor allem die großen Variationen anzudeuten, die im Lauf der Zeit den Themen zugewachsen sind. Lösbar geworden ist damit die Grundfrage nach dem Bösen angesichts Gottes nicht. Das wird im Schlussabschnitt Rückblick und Ausblick (197–294) klar, in dem sich Oberhänsli-Widmer auf eine talmudische Diskussion in Berachot 7a bezieht und dessen „vernichtende Bilanz“ (202) in Bezug auf die Theodizee konstatiert.
Diese Bilanz ist sehr gut durch die einzelnen Themenfelder vermittelt. In den Überlegungen zum Baum der Erkenntnis von Gut und Böse wird zunächst einmal vermerkt, dass das hebräische ra‘/ra’h Bedeutungen zwischen Übel und Bösem annehmen kann (17) und so durchaus offen ist in seiner Aneignung. Oft wird der Baum als dunkles Verhängnis gesehen. Dagegen hat sich etwa der Literat Natan Zach gewandt: „Ich bin Adam. Ich habe eine Alternative“ (37). Das Böse ist manchmal weniger Geschick als Aufgabe.
Im Abschnitt Leviathan und Behemoth verweist Oberhänsli-Widmer darauf, dass „Mythos und Monotheismus [...] sich [...] nicht widersprechen“ (43) müssen; die monotheistischen Traditionen haben mythische Elemente verarbeitet, und zwar nicht nur die biblische, sondern auch die rabbinische Tradition, die davon spricht, dass Gott den Leviathan geschaffen und domestiziert hat (46). Gerade in diesem Zusammenhang kam es aber auch zu einer Verschiebung der Frage nach dem Bösen: mehr und mehr von einer Frage der Schöpfung hin zu einer Frage der Erlösung (54). Gott tritt dann in diesem Kontext als der Schächter der beiden gewaltigen Tiere auf (61 f.); damit wird Leviathan in der rabbinischen Tradition ein „poetisches Gebilde, das dem Tohu wa-bohu der Welt Sinnhaftigkeit abringen will“ (67).
Kain gehört zu den düstersten Erzählgestalten mit fast ebenso einhellig düsterer Rezeption. Oberhänsli-Widmer erwähnt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die christliche Rezeption dieser Figur des Bösen, die erst durch die historische Kritik unterbrochen wurde (71) – eine Notwendigkeit, weil diese Figur „dem Antijudaismus über die Jahrhunderte Vorschub geleistet“ (88) hat. Von der Bibel bis zu einem abbrechenden Sechszeiler von Dan Pagis, der als Rede Evas gehalten ist, zieht sich die Ablehnung Kains: „wenn ihr meinen älteren Sohn seht, / Kain, den Menschensohn, / so sagt ihm, dass ich“ (87).
Der Fall der Engel wird vor allem in der apokalyptischen Henoch-Tradition dargestellt, ein „durch und durch synkretistisches Gedankengebäude“ (106), das sich später zu „einem umfassenden Dualismus-Denken“ (109) gesteigert hat – beides Motive, die vielleicht die Konjunktur der Engel im 20. Jh. ein wenig besser verstehen lassen. Der paradoxen Gestalt des bösen Triebes als „eine[r] Kreatur Gottes und gleichzeitig ein[em] Gegengott“ (137) – eigentlich nicht von der biblischen, sondern von der rabbinischen Tradition hervorgebracht – hielt eben die rabbinische Tradition das Studium der Tora als Gegenmittel entgegen (142).
Die Bindung Isaaks, in der rabbinischen Tradition zum Thema eschatologischer Erlösung durch das Verdienst der Väter gemacht (152), kritisierten Autoren der israelischen Moderne wie Raja Harniq als gefährliches Verhaltensmuster, dem zu widerstehen ist: „Nicht wie die Schafe zur Schlachtbank“ (164). Aus S. Yishars Die Tage von Ziklag, die sich auf den Unabhängigkeitskrieg 1948 beziehen, zitiert Oberhänsli-Widmer:
„Ich hasse es, die Söhne zu töten als Lebensexperiment. [...] Ich hasse es mehr als alles zu kämpfen. Es ist eine Missachtung jeden Wertes. Ich sitze hier und warte darauf zu morden, zu töten, zu vernichten“ (163).
Und sie schließt diese rätselhafte Geschichte mit der Hoffnung,
„dass selbst der Heilige, gepriesen sei er, in Genesis 22, der Bindung Isaaks, höchstens noch ein archaisches Relikt für die Überwindung des Menschenopfers lesen würde“ (169).
In der Esau-Tradition schließlich, die mit der Edom-Tradition identisch wurde, ging es um eine entscheidende Existenzfrage des Judentums:
„Wer war die auserwählte Nachkommenschaft: Israel oder der triumphierende Feind in Gestalt Edoms?“ (176).
Esau-Edom wurde in der rabbinischen Tradition jeweils der letzte politische Unterdrücker Israels im Zeichen der rabbinischen „Esau-Chriffre“ (189). Die israelische Literatur des 20. Jh. wandte sich von dieser Vorgabe ab (193), und „so löst sich die Schwarz- Weiß-Malerei doch auch in feinere Zwischentöne auf“ (195). Die Frage nach dem Bösen und seiner Wirksamkeit blieb aber in all diesen Versuchen seiner Deutung erhalten.
Oberhänsli-Widmer hat nichts gekittet oder beschönigt, „die ewige Aporie der Theodizee“ (196), die Israel härter getroffen hat als andere Religions- und Volksgemeinschaften, bleibt bestehen. Doch gegen die Verzweiflung hält Oberhänsli-Widmer am Schluss ihres Buches das große Friedensbild aus Jes 11,6–9, das auch zu Pessach rezitiert wird: Im Frieden, den nichts Böses, keine Angst und keine Gefahr mehr zerstören werden, „wird die Erde von der Erkenntnis des HERRN [voll sein] wie von Wasser, welches das Meer bedeckt“ (204).
Der Autorin ist es gelungen, ein wirklich beachtliches Buch zu schreiben. Die Frage des Bösen wird kenntnisreich aus den literarischen Quellen und in wichtigen Etappen ihrer Bearbeitungen aufgerollt, und das in historisch und philologisch sauberer Arbeit; zugleich ist ihr Buch ein gelungenes Beispiel dafür, dass historisch-kritisches Arbeiten den Blick für Konstellationen freigeben kann, in denen sich die menschheitliche Bedeutung solcher Texte fast von selbst entbirgt und dadurch gleichzeitig auch eine empathische Einweisung erfolgt.
Rezension von Wolfgang Treitler, Wien
Jahrgang 21 /2014 Heft 2 S. 136–139