Frauen erobern das amerikanische Judentum
„Es ist schwer, Jüdin zu sein, es ist schwer, Feministin zu sein.
Noch schwerer aber ist es, eine jüdische Feministin zu sein“
(nach Phyllis Chesler, amerikanisch- jüdische Frauenrechtlerin).
1972 hatte alles angefangen: Die Ordination der Amerikanerin Sally Priesand zur ersten Rabbinerin nach der Schoa (1935 wurde Regina Jonas in Deutschland zur ersten Rabbinerin weltweit ordiniert) markierte einen Meilenstein in der jüdischen (Frauen-)Geschichte und kann als Geburtsstunde des jüdischen Feminismus bzw. der jüdischen feministischen Theologie gesehen werden.
Es ist kein Zufall, dass die 2009 an der Goethe-Universität Frankfurt eingereichte Dissertation der Judaistin Christina Thesing just rund um das vierzigjährige Bestehen des jüdischen Feminismus erschienen ist und sich gleichsam als Hommage an die amerikanisch-jüdische feministische Tradition liest. In neun Kapiteln analysiert die Autorin die Rolle der Frauen im amerikanischen Judentum heute und geht der Frage nach, welche Veränderungen der jüdische Feminismus in Amerika hervorgerufen hat. In Amerika (wie v. a. auch in Israel und Europa) gibt es mittlerweile zahlreiche Rabbinerinnen oder Kantorinnen, und Frauen werden ganz selbstverständlich in gottesdienstliche Handlungen eingebunden, etwa zur Toralesung aufgerufen bzw. im Minjan (dem Quorum aus zehn Personen, ursprünglich nur Männer, die für einen Gottesdienst notwendig sind) mitgezählt. Heute, im 21. Jahrhundert, gilt dies alles als selbstverständlich.
Doch bis dahin war es ein weiter, ein steiniger Weg. Und längst nicht alle religiösen Strömungen innerhalb des Judentums haben sich gegenüber den Forderungen der Frauen offen gezeigt. Innerhalb der (gemäßigten) modernen Orthodoxie gibt es beispielsweise seit gut zehn Jahren Bestrebungen, Frauen mehr Rechte in der religiösen Öffentlichkeit zuzugestehen. In diesen Zusammenhang ist Christina Thesings Arbeit einzubetten: Der jüdische Feminismus hat sich in den vergangenen vierzig Jahren sehr weit entwickelt; vieles, was für junge Jüdinnen heute selbstverständlich ist, war bis vor einigen Jahrzehnten noch nicht einmal in Ansätzen denkbar gewesen. So stellt Thesing gleich zu Beginn jene Fragen, die sie im Laufe ihrer Studie erschöpfend beantworten wird:
„Ist die ‚Sonderrolle’ von Frauen im Rabbiner- und Kantorenamt oder in leitenden Funktionen innerhalb der jüdischen Gemeinden heute wirklich schon zur Normalität geworden?
Haben Frauen, so die zentrale Frage, das amerikanische Judentum für sich erobert?
Hat alleine die gestiegene Quantität an Rabbinerinnen die Qualität des amerikanischen Judentums verändert?“
Und weiter:
„Ist es [das Judentum] ‚femininer’ geworden? Ist die Rolle von Frauen wirklich besser geworden?“
Und noch kritischer:
„Hat sich nicht stattdessen eine Parallelwelt entwickelt? Tragen die neuen Rituale und die Forderungen der Feministinnen nicht eher zu einer Schwächung des Judentums bei“ (12)?
Diese ‚Feminisierungsthese’ macht Thesing im Kernstück ihrer Arbeit an drei Hauptzielen des amerikanisch-jüdischen Feminismus fest: Ein Ziel ist der gleichberechtigte Zugang zu Rechten, Pflichten und Positionen innerhalb der Gemeinde (‚equal access’), ein zweites ist der Anspruch, Frauen sprachlich in den Siddur, das Gebetbuch, als Betende zu integrieren, sie explizit zu nennen (z. B. ‚Gott unserer Väter und Mütter’ bzw. geschlechtsneutrale Formulierungen), das dritte Ziel ist die Veränderung resp. Einführung von weiblichen Ritualen wie etwa Feiern für die Menstruation, so geschehen mit dem 1976 erschienenen Siddur Nashim von Maggie Wenig und Naomi Janowitz (287).
Zum besseren Verständnis ist diesen drei Hauptthemen ein Kapitel über die vier großen Strömungen im amerikanischen Judentum vorgeordnet: Thesing beschreibt dort die moderne (nicht die charedische) Orthodoxie, das konservative Judentum, das Reformjudentum sowie den Rekonstruktionismus: In der Orthodoxie, auch der modernen, werden die religionsgesetzlichen Regeln am genauesten und am strengsten befolgt, was selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Rolle der Frau hat.
Das Reformjudentum, gewissermaßen die liberale Antwort auf die Orthodoxie, entstand im 19. Jahrhundert in Deutschland und versucht bis heute, die jüdischen Gesetze mit den Entwicklungen in der modernen Gesellschaft zu vereinbaren. Zwischen den beiden ‚Polen‘ ist die konservative Richtung anzusiedeln, die aus der reformierten entstand und in Amerika eine bedeutendere Rolle spielt als etwa in Europa; sie hat ihren Platz zwischen der Orthodoxie und dem liberalen Judentum. Der Rekonstruktionismus, aus dem konservativen Judentum hervorgegangen und erst in den 1930er Jahren unter der maßgeblichen Leitung von Mordecai Menachem Kaplan (1881–1983) entstanden, ist eine exklusiv amerikanische Erscheinung.
Allein die Bandbreite der verschiedenen Strömungen, die ihrerseits wiederum aus unterschiedlichen Richtungen bestehen, zeigt den Variantenreichtum des Judentums. Daher wundert es auch nicht, dass die ‚Frauenfrage’ in jeder dieser Strömungen anders angegangen wurde und wird. Dass sich im Laufe des 20. Jahrhunderts am ehesten die liberalen Strömungen ‚feminisieren‘ ließen, wundert nicht weiter.
Wie bereits erwähnt, ist der Beruf der Rabbinerin, der Kantorin, das geschlechterangeglichene Gebetbuch sowie die Frauenlesung aus der Tora im liberalen Judentum, aber auch im konservativen bzw. rekonstruktionistischen Judentum, heute längst eine Selbstverständlichkeit. 1985 wurde mit Amy Eilberg erstmals eine konservative (‚conservative‘) Rabbinerin am Jewish Theological Seminary in New York ordiniert.
In der sog. Ultraorthodoxie hingegen ist an die Ausübung des Rabbinats durch eine Frau oder ein gemeinsames Beten in der Synagoge nicht zu denken; auch Kantorinnen gibt es in der charedischen Welt nicht, genauso wenig wie es Frauen dort gestattet wäre, zur Tora aufgerufen oder im Minjan mitgezählt zu werden. Anders hingegen die moderne Orthodoxie, in der seit wenigen Jahren Rabbinerinnen ordiniert werden, – eine von ihnen ist Sara Hurwitz (New York), die den von ihr selbst gewählten Titel ‚Rabba’ trägt. Auch gemeinsames Beten ist in dieser Strömung teilweise möglich.
Christina Thesings eingehende sprachliche Analyse der einzelnen Siddurim, die sorgfältige Beschreibung des Ritualwandels sowie der Liturgie in der amerikanisch-jüdischen Welt, ihre kenntnisreichen Ausführungen zum ‚equal access’ münden trotz des hoffnungsvollen Untertitels der Studie in ein eher verhaltenes Fazit: Die amerikanisch-jüdischen Frauen haben zwar teilweise – vor allem in den liberalen Gemeinschaften – bedeutende Veränderungen erreicht, aber eine ‚Feminisierung’ der jüdischen Gemeinschaft( en) müsse verneint werden (vgl. S. 309).
Im Bereich des ‚equal access’ seien Frauen durch die erfreulich hohe Zuwachsrate an Rabbinerinnen und Kantorinnen sichtbarer geworden, doch von „abgeschlossene[r] Feminisierung“ (310) könne keineswegs gesprochen werden. Zudem habe sich die Textanalyse der einzelnen Siddurim als „ernüchternd“ erwiesen, da die Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Amerikanische „neutral gehalten, somit des femininen Aspekts wieder beraubt“ (311) worden seien. Der neue Reformsiddur sei sogar zur Wiedereinführung des Tetragramms mit ‚Adonai’ zurückgekehrt. Im Bereich der Lebenskreisrituale seien gute Erfolge erzielt worden, aber letztlich gebe es „keine Sinneserweiterung [...], sondern lediglich ein[en] Genus-Wechsel“ (312).
Thesings ernüchterte Sicht auf die vermeintlich mangelnde ‚Feminisierung’ des amerikanischen Judentums wird am Ende der Studie behutsam nivelliert, indem sie betont, dass die Eroberung des amerikanischen Judentums durch die Frauen keineswegs abgeschlossen sei. Damit räumt die Autorin ein, dass sich die Entwicklungen noch immer im Fluss befinden; ob eine wirkliche ‚Feminisierung’ des Judentums überhaupt anzustreben ist, sei dahingestellt (vgl. das Zitat der Autorin zur vermeintlichen Schwächung des Judentums durch Feminisierung weiter oben). Vielmehr scheint ein gendergerechtes Judentum, das Frauen und Männern eine gleichwertige Plattform anbietet, angesichts der immer präsenter werdenden ‚neuen Männerrolle’ langfristig das vorrangige Ziel zu sein. Etwas versöhnlicher attestiert Thesing den amerikanisch- jüdischen Frauen denn auch eine „gewisse Zufriedenheit“ mit dem bereits Erreichten, doch die „kämpferischen Zeiten der 1960er und 1970er Jahre sind vorüber, die Suche nach neuen Zielen hält an“ (313).
Rezension von Yvonne Domhardt
Jahrgang 21 / 2014 Heft 2 S. 139–142