Berühmt, berüchtigt – neu entdeckt
Lavater wird hier tatsächlich neu entdeckt; denn bekannt war er bisher als „Pionier“ der durch ihren massiven Missbrauch in Verruf geratenen Lehre von der Physiognomie und als zudringlicher Missionar, der den großen Juden Moses Mendelssohn bekehren wollte. Dass es Physiognomik schon bei den großen jüdischen Gelehrten im 11. Jh. gegeben hat, und dass wir alle sie betreiben, sobald wir einen Unbekannten kennen lernen, wird ausgeklammert.
Gremingers „eigene Sicht der Dinge“ (S. 51) verdient es ausgebaut zu werden; Lichtenbergs Kritik kommt geradezu einer Prophezeiung gleich. In Lavaters Heimatstadt Zürich ist 2008 mit einer historisch-kritischen Ausgabe aller Werke Lavaters begonnen worden. Band II ist als erster 2001 im NZZ-Verlag erschienen, herausgegeben von Ursula Caflisch-Schnetzler. Es ist zu hoffen, dass auch das heute noch wichtige Werk „Moses und Aaron“ bearbeitet wird. Nun hat Ueli Greminger, der wie Lavater Pfarrer von St. Peter in Zürich ist, sich von diesem „gott-trunkenen“ Menschenfreund packen lassen. Davon zeugt dieses liebevoll und sorgfältig gestaltete Buch.
Infolge des „Grebel-Handels“, dem das erste Kapitel gilt, wurden Lavater, Heinrich Füssli, der später in London als Maler berühmt wurde, und sein Freund Felix Hess in Zürich „aus dem Verkehr gezogen“. Dies geschah wohl mit der tätigen Hilfe ihrer Lehrer, dem Chorherrn Johann Jacob Breitinger (später Mitglied der Zensurbehörde) und dem Schriftsteller Johann Jacob Bodmer (als „Vater der Jünglinge“ in Europa bekannt). Die drei jungen Männer haben Johann Joachim Spalding nicht bloß gekannt (S. 24); sie wurden von ihren Mentoren zu ihm geschickt und sie begleiteten ihn auch nach Berlin, wohin Spalding als Oberkonsistorialrat berufen wurde. Spalding ist auch ein „Bestseller“ zur Aufklärung zu verdanken: „Die Bestimmung des Menschen“.
Den Begriff der „Selbstbestimmung“ hat Etienne Thourneyser geprägt: Mit Recht verweist Greminger auf die 54 Schriften (1751 bis 1784) über die Unsterblichkeit der Seele. Lavater mag diese Schriften gekannt haben. Weit verbreitet und für Lavater wichtig war Mendelssohns Schrift „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“. Lavater hatte zu Beginn seiner Schrift „Aussichten in die Ewigkeit“ (Greminger, Kapitel 4) Mendelssohn zur Mitarbeit eingeladen. Lavaters Widmung seiner Übersetzung von Bonnets „Palingénésie philosophique“ knüpft an den „Phädon“ an!
Kapitel 7 – fast unschuldig betitelt „Freundschaft mit Goethe“ – scheint das Haupt- und Herzstück des Buches zu sein: Es geht um nichts Geringeres als um den Glauben und seine Folgen für das Zusammenleben der Menschen: hier Lavater, für den es nichts Schöneres und Wichtigeres gibt als das Evangelium, dort Goethe, der Gott in der Natur und der Kunst findet und von den Erzählungen der Bibel und den Grundlehren des Christentums überhaupt nichts hält. Von Goethe stammt auch der Ausdruck, der heute zu den großen Reizwörtern gehört: „Ausschließliche Intoleranz“ (S. 65).
Ab 1871 wurde St. Peter zu „einem Ort der liberalen Theologie. Ironie der Geschichte: Goethes liberaler Weltsinn setzte sich ausgerechnet am St. Peter [...] durch“ (S. 107). (Erinnert sei hier an die Dialoginitiative von Papst Benedikt XVI. „Vorhof der Völker“, wo Glaubende und Nichtglaubende einander auf höchstem Niveau begegnen.) Religiös und theologisch Interessierte seien auch auf Gremingers Charakterisierung von Lavaters Frömmigkeit und seine „präsentische Theologie“ hingewiesen (S. 89).
Das vorletzte (elfte) Kapitel gilt dem Ereignis, das Lavaters Leben ein Ende setzen sollte. Lavater hat sich erst gegen Unrecht im eigenen Land aufgelehnt; nun stellt er sich dem Unrecht entgegen, das seinem Land geschieht (dem Einmarsch französischer Truppen). Als wohl verkannte, schwierige Aufgabe bleibt der Schluss des letzten Kapitels „Wo viel Licht ist“ (S. 100–105). Es geht um Lavater und Mendelssohn. Greminger gibt hier die communis opinio wieder; nicht so der Rezensent, der im Folgenden – die Ergebnisse jahrelanger, bislang nur teilweise publizierter Forschungen von Gisela Luginbühl-Weber (1935–2011) weiterführend – eine ganz andere Auffassung vertreten möchte.
Es geht um die Widmung von Lavaters Übersetzung eines Werkes des berühmten Genfer Biologen und Calvinisten Charles Bonnet. Die „Palingénésie philosophique“ sollte nach dem ausdrücklichen Willen des Verfassers die durch die zeitgenössische Naturwissenschaft verunsicherten Gläubigen in ihrem Glauben bestärken (Hervorhebungen von S. L.). Lavaters Begeisterung für das Werk hat damit zu tun, dass er sich von der Naturwissenschaft (er war Mitglied der Zürcher Naturforschenden Gesellschaft) eine auch für Nichtglaubende annehmbare Fundierung des christlichen Glaubens versprach.
So ist es verständlich, dass Lavater als Adressaten einer Widmung zuerst einen von drei christlichen Theologen zu wählen gedachte: den Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Oberkonsistorialrat J. J. Spalding oder P. Marianus Müller OSB, den späteren Abt von Einsiedeln. Außerdem hat Lavater nur den zweiten Teil von Bonnets Buch übersetzt. Dafür verlangte aber Bonnet für die deutsche Fassung einen besonderen Titel, um Verwechslungen vorzubeugen. Das Resultat hat sich als fatal erwiesen.
Wie aber kam Lavater auf den Gedanken, das Buch ausgerechnet Mendelssohn zu widmen? Ein erst 1997 veröffentlichter Brief löst wohl das Rätsel: Pfarrer Johann Rudolf Ulrich, Antistes und oberster Zensor der Zürcher Kirche, muss ihn darauf aufmerksam gemacht haben, dass Bonnet ja philosophisch und nicht theologisch argumentiert, ein Philosoph also eher als Adressat geeignet sei als ein Theologe. Wer war da erste Adresse, wenn nicht der erfolgreichste und angesehenste Verfasser von Unsterblichkeitsliteratur (Phädon, s. o.)? Der erste Schock muss Mendelssohn getroffen haben, als er den Namen des Autors (nicht des Übersetzers) sah: Mendelssohn hat Bonnet zutiefst verachtet und ihn nur eines einzigen Antwortschreibens gewürdigt; noch 1783 hat Bonnet einen öffentlichen Fußtritt von Mendelssohn hinnehmen müssen.
Was dahinter steckt, hat mit Lavater gar nichts zu tun; es wird in Gisela Luginbühl-Webers Monografie über Etienne Thourneyser, die 2014 erscheinen soll, dargestellt. Den zweiten Anstoß bot der deutsche Titel von Lavaters Teilübersetzung, der „Palingénésie“, „Beweise für das Christentum“. (Man darf wohl annehmen, dass Mendelssohn das Original nie gesehen hat.) Erstaunlich bleibt, dass Mendelssohn überhaupt nicht darauf reagiert hat, dass Lavaters Widmungstext wörtlich an Mendelssohns Nachbemerkung zur dritten Auflage seines „Phädon“ anknüpft. Das gleiche Verfahren sollte Lavater nach Mendelssohns Tod für sein letztes Buch, „Moses und Aron“, wählen: Dieses schließt deutlich an Mendelssohns „Jerusalem“ an.
Waren die älteren Autoren (Simon Rawidowicz und Alexander Altmann) in ihren Urteilen noch ausgesprochen vorsichtig, so lassen die neueren an Lavaters Charakter keinen guten Faden mehr. Greminger würdigt immerhin Lavaters Einsatz für die Juden in Endingen und Lengnau, als die Anzahl der den Juden zu erlaubenden Eheschließungen eingeschränkt werden sollte. Den entsprechenden Brief von Mendelssohn, aus dem hervorgeht, wie sehr Mendelssohn Lavater persönlich geschätzt hat, zitiert er aber nicht. Oder möchten Lavaters Kritiker etwa Mendelssohn implizit der Heuchelei bezichtigen?
Pfarrer Ueli Greminger hat seinem ‚Vorgänger‘ Lavater nicht nur ein Denkmal gesetzt, sondern bestimmt auch neue Freunde erworben. Der Schreibende wagt es anzunehmen, Lavater hätte am Ethos dieses Büchleins wie an dessen Ästhetik Freude.
Simon Lauer, Zürich
Jahrgang 21 / 2014 Heft 3 S. 220−223.