Rachel Kochawi hat es vorgemacht mit ihrem Buch „Das Brot der Armut. Die Geschichte eines versteckten Kindes“ (vgl. FrRu NF 18 [2011] 223–225). Sie hat die Geschichte ihres Überlebens, versteckt im Keller beim ehemaligen Dienstmädchen, nicht als Bericht erzählt, „und dann ... und dann ... und dann“, sondern um vieles spannender, als Roman. Ähnliches hat auch David Safier unternommen in seinem Roman über den Warschauer Gettoaufstand, der genau 28 Tage dauerte (19. April bis 16. Mai 1943).
Mira, sie ist zu Beginn des Geschehens 16 Jahre alt, darf direkt erzählen. Das verleiht der Geschichte Authentizität. Mira schmuggelt unter Lebensgefahr Nahrungsmittel von außerhalb in das Getto, damit ihre Familie etwas zu essen hat, aber auch, um Luxusartikel, wie Butter, zu verkaufen, damit sie beim nächsten „Ausflug“ aus dem Getto noch mehr Geld hat und noch mehr einkaufen kann. Unterwegs wird sie von „Hyänen“, wie Mira sie nennt, verfolgt. Sie wollen sie fangen und an die Deutschen ausliefern. Ein junger Mann erkennt ihre Notlage, umarmt sie, küsst sie heftig und „freut sich“, sie zu sehen; eine positive Begegnung, denn die beiden sollen sich noch wiedersehen. Zu Beginn führt Mira uns durch den sich ständig verschlimmernden Alltag im Warschauer Getto. Ihr Vater stürzt sich vor Verzweiflung aus dem Fenster, ihre Mutter sondert sich zusehends von der realen Welt ab; nur ihre kleine Schwester Hannah, die zwei Jahre jünger als Mira ist, sie lebt und wird langsam erwachsen.
Auch Menschen, die sich nachweislich im Warschauer Getto befanden, begegnen wir: Josef Blösche, genannt „Frankenstein“, einem der brutalsten deutschen Wachmänner, der sich rühmt, mit eigener Hand mindestens 300 Menschen erschossen zu haben. Hilfstruppen aus der Ukraine und aus Lettland sind anwesend, die noch weitaus schlimmer als die Deutschen gegen die Gettobewohner vorgehen. Aber auch Janusz Korczak; er führt sein Waisenhaus im Getto, wacht über seine Schützlinge – und, als sie abtransportiert werden, begleitet er sie auf ihrem letzten bitteren Gang bis nach Auschwitz und in den Tod. Die Deportationen beginnen. Mira, ihre Mutter und ihre Schwester verstecken sich in der Speisekammer der Wohnung, ihr Bruder Simon ist bei der Judenpolizei. Er versorgt sie mit Essen und Trinken.
Mira wird entdeckt, kommt auf den „Umschlagplatz“, trifft Amos, den jungen Mann, der sie schon einmal gerettet hat. Jetzt trägt er die Uniform eines Judenpolizisten. Sie ist ebenso gefälscht wie die gelben Marken, die das Überleben sichern sollen. Ein Mitglied von Amos’ Widerstandsgruppe kauft Mira frei, und sie schließt sich den Widerstandskämpfern an. Mutter und Schwester werden in ihrem Versteck ermordet.
Am Vorabend von Pessach beginnt der Aufstand. Er dauert 28 lange Tage. Die letzten Überlebenden (vgl. Theo Mechtenberg, Gelebte Solidarität. Zum Tod von Marek Edelman, in FrRu NF 17 [2010] 118–122) flüchten durch die Kanalisation aus dem Getto; auch Mira und Amos. Ein Lastwagen bringt sie in den Wald. Sie sind gerettet, vorläufig. Denn noch ist der Krieg im Sommer 1943 nicht zu Ende.
David Safier hat viel recherchiert, denn was er über das Getto erzählt, klingt so realistisch, als habe er, als habe Mira, seine Protagonistin, das alles selbst erlebt. Im Vorwort schreibt Safier, es gehe ihm vor allem um die Frage: „Was für ein Mensch willst du sein?“ Und doch beschleichen den Leser ein leises Unbehagen und die Frage: Ist das legitim? Darf man über ein Thema wie den Warschauer Gettoaufstand einen fiktiven Roman schreiben? Diese Frage muss wohl jeder für sich beantworten.
Miriam Magall, München
Jahrgang 21 / 2014 Heft 3 S. 227−228.