Von Saarbrücken nach Nahariya. Erinnerungen
Dieses Werk ist ein unveränderter Nachdruck der Ausgabe der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart 1964 (Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts). Ermöglicht wurde der Neudruck mit Unterstützung der Gesellschaft für staatsbürgerliche Bildung Saar und des Kulturreferats der Landeshauptstadt Saarbrücken. Der Neuausgabe – anlässlich der Namensgebung eines neu geschaffenen Platzes im Zentrum von Saarbrücken (vor dem Saarcenter) nach dem von 1929 bis 1935 in dieser Stadt wirkenden Rabbiner Schlomo Rülf – ist ein Nachwort von Herbert Jochum, dem Geschäftsführenden Vorsitzenden der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft des Saarlandes (CJAS), beigegeben.
Schlomo Rülf (1896–1976) begann mit den Aufzeichnungen seiner Lebenserinnerungen nach seiner Verabschiedung als Leiter der Chaim-Weizmann- Schule in Nahariya im Jahre 1958. Bereits um 1960 übergab er seinem langjährigen Freund Sieghart Weichselbaum den ersten Teil der Erinnerungen. Diese späte Würdigung von Rabbiner Rülf in Saarbrücken zusammen mit der Neuedition seines autobiografischen Werkes fällt in eine Zeit allgemein akzeptierter deutscher Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus.
Nach dem jahrzehntelangen Schweigen über die Gräuel der Hitler-Diktatur wird mit dieser Veröffentlichung an jene Jahre erinnert, vor allem an die Zerstörung der jüdischen Gemeinden und die Ermordung der Juden. Die wissenschaftliche Erforschung bringt allgemeine Erkenntnisse ans Licht, aber auch regionale Besonderheiten, wie die Rolle der Juden des Saarlandes, das bis 1935 Mandatsgebiet des Völkerbundes war. Aus der Erinnerung des jungen Rabbiners erfährt man Wissenswertes über die Zeit vor der Saarabstimmung, die zum Anschluss des Saarlandes an Deutschland führte.
Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert, gefolgt von einem Glossar mit hilfreichen Erklärungen hebräischer Ausdrücke. Der erste Teil beinhaltet den Lebensabschnitt Kindheit (in Braunschweig) bis zur Flucht aus Saarbrü- cken nach Palästina. Der zweite Teil umfasst die Jahre in Palästina/Israel und „Intermezzo im Ausland“. Dem ersten Teil sind ein Vorwort von Rabbiner Max Grünewald und eine Vorbemerkung des Autors vorangestellt.
Die beiden Teile vermitteln wertvolle Einsichten in das Leben und Erleben eines gebildeten Juden, der in zwei Kulturwelten lebte oder leben musste: im Europa vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg und, ab 1935, im Vorderen Orient. Während der Erzähler seine Kindheit als ein Leben in geregelten familiären und gesellschaftlichen Bahnen darstellt, in denen er seine spätere Rolle als Rabbiner findet, trifft er in Palästina, das 1935 noch britisches Mandatsgebiet war, auf eine Situation, die erst am Beginn der Entwicklung einer kulturellen Infrastruktur steht. Die Sicherung der Ernährung und der Aufbau kultureller Mindeststandards sind die entscheidenden Faktoren dieses jungen Landes, das seine Unabhängigkeit erst noch erkämpfen muss.
Da der europäisch geprägte, gebildete Rabbiner in diesem Umfeld überflüssig zu sein scheint, sucht er eine andere Funktion und findet sie als Pionier und Direktor der Chaim-Weizmann-Schule in Nahariya. In der landwirtschaftlichen Produktions- und Forschungsstätte Mikweh Jisrael hatte er sich bereits handwerklich auf die Aufgabe vorbereitet, das Land auf dem Weg von der Wüste in ein blühendes Gemeinwesen tatkräftig zu unterstützen. Dies ist für Rülf und seine junge Familie mit Hindernissen der verschiedensten Art verbunden: unvollständige Kenntnis der Landessprache Iwrith, lebensbedrohliche Erkrankungen und der Tod einzelner Familienmitglieder, die schlechten Wohnverhältnisse, die Bedrohung durch arabische Überfälle. Der Rabbiner und Lehrer erlebt Gelingen und Scheitern und bewältigt die Herausforderungen betend, diskutierend und kämpfend.
In seinen Aufzeichnungen erinnert sich Rülf an viele einzelne Begebenheiten, die er narrativ ausgestaltet. Deswegen liest sich sein Buch so gut. Besonders die Episoden, die in die Darstellung seiner Erlebnisse an einzelnen Orten eingestreut sind, prägen sich dem Leser ein. Wesentliche Gespräche sind in wörtlicher Rede ausgeführt, sodass der Leser unmittelbar in die Welt des Erzählers einbezogen wird, z. B. durch die Wiedergabe antisemitischer Äußerungen in seiner Umgebung, freundschaftlicher Bemerkungen ehemaliger Schüler, die Anteilnahme seiner Freunde an den leidvollen Erfahrungen seiner Familie oder die Reaktionen eines bedeutenden Beamten des Völkerbundes in Genf nach der Saarabstimmung im Jahre 1935.
In den Wirrnissen und Bedrohungen seiner Zeit findet Rülf in seinem Glauben einen persönlichen Weg der Rettung, den er vor allem an seine jugendlichen Schüler im Unterricht weitergibt und so zum Überleben vieler beiträgt. Weil er den Menschen in seinen Tiefen versteht, ist sein geistiges Urteil nicht von ideologischen Moden geprägt oder von opportunistischem Kalkül, sondern von innerer Wahrhaftigkeit. Dies zeigt sich sowohl in der Art und Weise, wie er die liberalen Gemeinden reformiert, als auch in seinen Kämpfen um die Richtung der Chaim-Weizmann-Schule in Nahariya. Sein Begriff des Modernen ist von einer positiven Sicht des Jüdischen bestimmt, einem Jüdisch-Sein, das nicht durch größtmögliche Assimilation erreicht werden kann. Mit dieser Haltung überfordert er einzelne Gemeindemitglieder. Er ist allerdings auch kein Freund selbstzufriedener, veräußerlichter Religion, die nur noch eine gesellschaftliche Funktion hat, wahre Religiosität aber vernachlässigt. Aufgrund seiner verinnerlichten geistigen Klarheit durchschaut Rülf auch die gegen den radikalen Zionisten Sieghart Weichselbaum in Bamberg geäußerten massiven Vorurteile und findet in ihm einen dauerhaften Freund. Rülf leidet auch an der Teilung der jüdischen Gemeinden in eine liberale und eine orthodoxe Richtung. Er möchte Rabbiner für alle sein und versucht, das Gemeinsame zu betonen.
Nichtjuden gegenüber ist er aufgeschlossen. In seiner Rede zur Einweihung der neuen Synagoge in Saarbrücken am 14. Januar 1951 erinnert er – nur wenige Jahre nach dem Massenmord – an die nichtjüdischen Menschen, die an Juden menschlich handelten: Dänen, Holländer, Geistliche in Frankreich und in Italien. Er betet für die Menschen guten Willens und betont ihre Einheit mit den Juden. Mit Blick auf 1945 dankt er für die Rettung der wenigen Überlebenden. Die Wenigen hätten einen Sieg über die Vielen errungen.
Dies betrachtet Rülf als ein Wunder. In seinen Erinnerungen an das Leben in Palästina/Israel deckt er Konflikte nicht mit nationalem Pathos zu. Er benennt das offensichtlich Positive: das neue Leben in dem von Gott verheißenem Land, die schwierige Identitätsfindung jüdischer Bürger, die dem Holocaust entkommen sind. Aber er benennt auch die Schwächen: die technologische Ausrichtung der jungen Pioniere in den Kibbuzim, die eurozentrische Gesinnung mancher Politiker, die die Zeichen der Zeit nicht verstehen, die Gruppenkonflikte zwischen den Alteingesessenen und den Neubürgern und die Unerfahrenheit der jungen Soldaten im Unabhängigkeitskrieg. In späteren Jahren löst Rülf sich von der negativen Gesinnung gegenüber der arabischen Bevölkerung und fordert ein gleichberechtigtes Zusammenleben von beiden Volksgruppen. Frei von militaristischer Gesinnung, ist Krieg für ihn nur ein notwendiges Übel.
Beeindruckend ist, wie Rülf den Aufbau von Nahariya zu einer blühenden Kommune beschreibt. Einzelne Persönlichkeiten wie Else David, die Opfer eines Anschlags wurde, prägen die Stadt. Nahariya ist seine Heimat geworden. Dort hat er wirtschaftliche Not und ideologisch motivierten Widerstand erfahren, physische Bedrohung in den Kämpfen mit den Arabern vor und nach der Staatsgründung, in denen er seinen Sohn Jochanan verlor, aber auch die erfolgreiche Entwicklung der Chaim-Weizmann-Schule, den Aufbau des Gemeinwesens und das Wachsen seiner Familie. Die Reisen nach Europa und sein kurzzeitiges Wirken als Rabbiner in Saarbrücken (1951/52) und in Amsterdam (1953) sind Zeichen seiner Verbundenheit mit den Juden in Europa. Doch sein Land ist Israel. Den Tag der Befreiung des West-Galil (15. Mai 1948) bezeichnet er als eine Sternstunde seines Lebens.
Dieses Buch ist zu empfehlen, weil es mit einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte konfrontiert, die trotz aller Widrigkeiten in der Rückschau als positiv erlebt wird. Die Biografie betont den Wert des Glaubens und führt vor Augen, wie lebendig jüdisches Leben in Deutschland einmal war. Sie öffnet auch den Blick auf die Genese des Staates Israel und kann das Verstehen des heutigen Staates befördern. Es ist zu wünschen, dass dieses Buch viele interessierte Leser findet.
Willi Körtels, Trier
Jahrgang 21 / 2014 Heft 4 Seite 301−304