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Johannes Schleicher / Tanja Hoeg (Hg.)

Mystik im Aufwind

Begegnung zwischen jüdischer und christlicher Mystik

Die Festschrift zum 70. Geburtstag des Theologen und Psychologen Franz-Xaver Jans-Scheidegger, langjähriger spiritueller Leiter des Via Cordis-Hauses St. Dorothea in Flüeli Ranft (Schweiz), versammelt zwölf Vorträge des Symposions zu seinem Jubiläum Ende Mai 2013. Der Jubilar, der „mit seinem hesychastischen Ansatz (Herzensgebet) zu den großen Pionieren der Kontemplation im 20. und 21. Jahrhundert“ (7) gehört, beginnt selbst mit „Betrachtungen zu einem uralten Wandlungsprozess“ (10–36), dem „Opus magnum – Das große Werk“ der Alchemisten als „tat-volle Kontemplation“ (11).

Zum Weg der Transformation des Bewusstseins über sieben Wandlungsphasen gehören die „harmonikalen Strukturen im Mikro- und Makrokosmos“, die fünf Weltelemente (einschließlich des Äthers), die „zwölf Tierkreisprinzipien“ und „die sieben ‚alten’ Planetenkräfte“ einschließlich Sonne und Mond (analog: die sieben Schöpfungstage oder die sieben Chakren). Ziel ist die Entdeckung des „Steins des Weisen“ („Steins der Weisheit“).

„Das ‚Gold’, welches die Adepten herstellen wollten, ist der in sich geeinte Mensch, der Anthropos. In ihm wird die Fülle des Mensch-Seins als Einheit zwischen weiblichem und männlichem Bewusstsein sichtbar“ (12 f.).

Nach dem spirituellen Durchgang durch die vier Elemente, der mortificatio als „Zerstückelung“ (27 f.) und ‚Sterben’ des Weizenkorns (Joh 12,24) und der separatio (Unterscheidung der Geister) folgt als siebte Stufe die conjunctio, die Vereinigung der Gegensätze:

„Im religiösen Kontext steht sie für die heilige Hochzeit. Wir sagen: ‚Dieser Mensch ist rundum ganz, eins mit dem Urbild der Schönheit in der Ebenbildlichkeit Gottes!’“ (15; vgl. 29).

Die labyrinthartigen Verbindungen der sieben Stufen in drei großen Beziehungsskizzen (18–20) erschließen sich nur schwer; die Deutungen der Stufen im Einzelnen (24–32) sind dagegen hilfreich. Der Weg über vier Schritte (analog zur pythagoreischen Tetraktys) als „Auseinandersetzung mit der Polarität Materie und Geist“ (33) führt auch zur „makrokosmischen Zehn […], die wiederum als die (doppelte) Quintessenz der Alchemisten alle weiteren Möglichkeiten umfasst“ (31).

Letztes Bild für den Geist, der „der Materie innewohnt“, ist die Krönung Marias „als göttliche Urmutter und Weisheit“ durch den trinitarischen Gott:

„Ohne die göttliche Weisheit, die von Anfang der Schöpfung im Angesicht des Ewigen tanzt, sind die Wandlungsphasen der Alchemie undenkbar“ (36).

Diese ‚tanzende’ oder ‚spielende’ Weisheit (Spr 8,22–31) ist aber nicht Teil einer göttlichen „Quaternität“ (ebd.), sondern der geschaffene ‚Anfang’ der Schöpfung (V. 22).

Der Unterschied zwischen christlicher und jüdischer Mystik wird besonders an zwei Beiträgen deutlich. Der Jesuit und Judaist Christian M. Rutishauser wendet sich in seinem Vortrag „Mystik als Lebensstil – Das Tor zur Seele öffnen“ (57–68) gegen eine aus dem Kontext des inneren Prozesses herausgelöste „Abtötung“, mit der sich eine „falsche Körperfeindlichkeit“ verbunden hat; richtig sei vielmehr:

„Wer Mystik als Lebensstil gewählt hat, erlebt den inneren Kampf und muss ihn benennen. Ohne ein ‚Ja’ zum Absterben all dessen, was nicht zu Gott passt, das aber leben will und sich vor dem eigenen Tod wehrt, gibt es keine Neugeburt. Ein mystischer Weg ist nicht harmlos“ (60).

Er ist „nicht etwas Irrationales“ (64) und „nicht machbar“ (66), jeder aber kann ihn erstreben. „Mystik ist von ihrem Wesen her unmittelbare Begegnung in der Vertikalen mit Gott“ (67), was sich im ersten Gebot der Gottesliebe ausdrückt. Aber auch die horizontale Beziehung zu den Menschen darf nicht fehlen:

„Je stärker mein Gegenüber auf Gott hin durchsichtig ist, umso mehr wird Gott im Anderen unmittelbar erfahren“ (ebd.).

Der Psychologe Gabriel Strenger (Jerusalem) erläutert in seinem Beitrag besonders von Friedrich Weinreb her (vgl. 79) die Kabbala als „Liebe und Leben“ (77–83). Der Kabbalist ist ein Mekubal, ein „Empfänger der mystischen Tradition des Judentums“ (77). Als solcher ist er ein Glaubender, der den Wunsch hat, aus der ‚Knechtschaft von Ägypten’ auszuziehen, aus dem Exil der „Nefesch“ (Körperseele) im Durchbruch zur „Neschama“ (Geistseele), die im Ejn-Sof verwurzelt ist:

„Die Kabbala handelt von Mysterien, über die man eigentlich schweigen müsste. […] Die Lösung ist, dass man spricht, aber in verschlüsselter Weise. […] Wer die Symbole von seiner Neschama her intuitiv nicht kennt, wird sowieso nicht verstehen, was er liest“ (78).

Wenn es im Hohelied heißt, der Bräutigam stehe „hinter unserer Wand, schauend durch die Fenster, lugend durch die Ritzen“ (Hld 2,9), so geschieht für den Kabbalisten hier das Wunder als „Durchbruch der verborgenen Gottheit in unser Bewusstsein“ (79).

Beim kabbalistischen Symbolsystem des Sefirotbaums hebt Strenger die Wechselwirkung zwischen der sechsten (männlichen) Sefira Tiph’eret, die er „Herrgott“ nennt, und der zehnten (weiblichen) Sefira Malchuth auf der Mittelachse hervor, die mit der Schechina, „der göttlichen Gegenwart im Diesseits“, identisch ist:

„Da die Schechina – wie der Mond [...] – über keine eigene Energie verfügt, ist sie völlig auf die ‚Sonne’, den ‚Herrgott’, angewiesen“ (80).

Ihre Vereinigung mit Tiph’eret in Liebe „öffnet die jenseitigen ‚Kanäle’ und lässt den Energiestrom in das Diesseits fließen“. Getrennt von ihrem göttlichen Geliebten wird die Schechina „anfällig für den negativen Einfluss des Widersachers“; so wird sie unterschiedlich erlebt: „als gütige Mutter oder als dämonische Frau“ (ebd.).

„Israel verbindet sich mit der der Natur zugrunde liegenden Schechina und unterstützt ihre Vereinigung mit dem Geliebten, dem transzendenten ‚Herrgott’: Die Schechina reinigt sich am Schabbat von allen negativen Einflüssen und wird eins mit dem ‚Herrgott’“ (81).

„Mit dieser Intention begeht der Mekubal den Schabbat“, wobei er die spirituelle Liebe zur Schechina „in seinem Eheleben integriert. Mystische und erotische Liebe werden eins, denn die Wurzel des Eros ist im Jenseits“ (82). Der Schabbat ist dann ein „Vorgeschmack des Jenseits“ (Talmud Berachot 57b).

Einen kleinen Einblick in das Geheimnis der hebräischen Buchstabenzahlen als „Eingangstor zu göttlichen Energien“ und „kosmischen Signaturen“ gewährt das kurze Gespräch der Kalligrafin Lydia Johanna Louis mit Franz- Xaver Jans-Scheidegger (94–97). Durchbuchstabiert werden die Buchstaben am Beispiel des Namens „Jeschua“.

Der Name bedeutet „Gott rettet“ und beginnt mit einem Jod, dem zehnten (und kleinsten) Buchstaben (= 10) und Ausgangspunkt aller anderen Buchstaben. Jod wiederum kommt von Jad, der Hand mit ihren fünf Fingern (zwei Hände = 10). „Jod ist der göttliche Lichtkeim, Lichtsamen im Herzen der Schöpfung, im Herzen des Menschen“ (95), es geht bei ihm um die Erfüllung des göttlichen Willens (96).

Der 3. Buchstabe im Namen Jeschua ist Waw (= 6), das für den am 6. Tag erschaffenen Menschen steht, der Himmel und Erde (oben und unten) verbinden soll; im Körper symbolisiert Waw die Wirbelsäule. Jod und Waw bestehen jeweils aus einem Strich, der 4. Buchstabe des Namens Jeschua (Ajin) hat drei Striche; er bedeutet ‚Auge’, auch die Öffnung des ‚dritten Auges’. Der 2. Buchstabe (Schin) kommt von ‚schen’ = Zahn; er hat den Zahlenwert 300 und steht für den Geist (Gottes) und das Element Feuer bzw. „den Bund zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung“ (97). Zugeordnet ist Schin dem Kopf (der Stirn) und meint so „die Vergeistigung der Materie“.

„Der Name ‚Jeschua’ öffnet in uns das Tor der Freude, die uns niemand nehmen kann! Das Üben mit den hebräischen Buchstaben wird zur Nahrung für den Weg im Alltag“ (ebd.).

Die Kalligrafin bezieht sich ausdrücklich auf die christliche Kabbalistin Annick de Souzenelle (geb. 1921), über die der Leser leider so wenig erfährt wie über den chassidischen Mystiker und Tora-Gelehrten Friedrich Weinreb. Das Prinzip, um der besseren Lesbarkeit willen auf „viele Fußnoten“ zu verzichten (7), empfiehlt sich nicht immer.

Die weiteren Beiträge befassen sich mit den „Familienbanden von Judentum und Christentum“ (Alois Stimpfle), Mystik und Theologie in der christlichen Religion (Markus Ries), Ursprung und Geschichte der Kabbala (Michael Bollag), Buber und Rosenzweig (Hortense R. Anwari), Mystik im Islam (Peter Hüseyin Cunz) und im Hinduismus (Bettina S. Bäumer), dem benediktinischen Weg der inneren Reinigung (Fidelis Ruppert), der Friedensmystik des Nikolaus von Flüe (Johann Schleicher) und dem „Weg des Herzens“ – Via Cordis (Bettina Knepper).

Klaus W. Hälbig, Rottenburg


Jahrgang 21 / 2014 Heft 4 S. 304−308


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