Der israelische Historiker und „Schoah-Forscher“ Yehuda Bauer will mit diesem Buch das Schtetl noch einmal vor Augen führen, bevor es für immer verschwindet, und seine Geschichte „während der Schoah im Kontext der Judenvernichtung“ erzählen.
Diese besondere Form jüdischen Lebens in Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg ist vor allem aus der Literatur des 19. und frühen 20. Jh. überliefert. Der jiddische Autor Scholem Alejchem ist allerdings nicht für die nostalgische Version seines Milchmanns Tewje im Musical „The Fiddler on The Roof“ verantwortlich. Alejchems Geschichten verklären keineswegs das Ostjudentum zur Zarenzeit. Der Tewje der Vorlage lebte zudem in einem Dorf, nicht – wie im Musical dargestellt – in einem Schtetl. Denn gerade das Schtetl ermöglichte Juden ein Leben in Würde. Manès Sperber wies auf den Unterschied zum Getto hin:
„Die Juden des Gettos von Venedig, Rom oder Worms blieben eine in ihrer eigenen Vaterstadt diskriminierte Minderheit, während die Einwohner des Schtetls majoritär, also bei sich zu Hause waren.“
Die Ermordung der Juden Osteuropas ist gut erforscht, nicht aber ihr Leben in den Jahren davor. Dieser Aufgabe hat sich Bauer gestellt.
„Mich interessiert vor allem, wie die Juden auf die unerwartete Bedrohung reagierten, bevor das Morden begann. Dass sie gestorben sind, weiß ich, ich möchte wissen, wie sie lebten.“
Dabei interessieren ihn besonders der soziale, kulturelle und religiöse Zusammenhalt und die Möglichkeiten von Amida (hebr. aufstehen gegen), also Formen des bewaffneten und unbewaffneten Widerstands. Bauer stellt dies aus der Perspektive der Opfer dar und verknüpft dabei historische Analysen und Zeugenberichte. Er ist überzeugt, dass sich nur so ein Bild jener Menschen gewinnen lässt, sowohl der Toten wie auch der wenigen Überlebenden. Dabei behandelt er auch das Thema der Retter. Zwar müsse man sich immer vor Augen führen, dass sowohl die Zahl der Retter als auch die der Überlebenden sehr gering sei:
„Beobachter haben, wenn von der Schoah die Rede ist, stets die Tendenz, der Zahl der Retter ein unangemessen großes Gewicht zu geben. Dennoch sind die wenigen Berichte bedeutsam: Als Gegengewicht zur Geschichte des Völkermords haben sie eine spezifische und auch eine universelle Bedeutung“,
besonders diejenigen unter den Rettern, die als „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem geehrt wurden.
„Der Zahl nach sind es wenige, doch sind sie es, die es uns ermöglichen, über die Schoah zu erzählen. Ohne sie wäre die Schoah eine Geschichte maßlosen Schreckens, und wir können den Menschen, vor allem jungen Menschen keine Geschichten maßlosen Schreckens erzählen oder sie eine solche lehren; solche Geschichten würden zurückgewiesen werden, man könnte aus ihnen keine Lektion in Menschlichkeit lernen.“
Oft sind es religiöse Motive, die die Retter motivierten, auf eine selbstverständliche und fast an Wunder grenzende Art und Weise. In einer der Erzählungen hebt Yehuda Bauer die Rolle der Mennoniten (Altgläubigen) hervor. Da sie vielfach in abgelegenen Regionen und in geschlossenen Gemeinschaften lebten, war es ihnen eher möglich, Zuflucht zu gewähren und Beistand zu leisten. Die Geschichte von Yitzhak Goren, der ursprünglich im Schtetl Wysock lebte, erzählt von einer solchen wunderbaren Rettung.
Goren war nach einer abenteuerlichen Odyssee, ohne Eltern und Geschwister, als Zwölfjähriger in die Wälder der Umgebung geflüchtet. Dort stieß er nach Wochen auf ein abgelegenes Dorf, wo man ihn, ohne zu fragen, aufnahm.
„Die meisten Bewohner des Dorfes waren Altgläubige; keiner dort konnte lesen oder schreiben. Die Person, die für alle bis dahin aus der Bibel vorgelesen hatte, war gestorben, und sie hatten niemanden, der dies übernehmen konnte.“
Und so las ihnen nun Yitzhak aus der Bibel vor. Die Altgläubigen orientierten sich vor allem am Alten Testament.
„Sie schlachteten ihre Tiere (auch Schweine) nach den Koscherregeln, hielten am Samstag Sabbat und führten ihr Leben streng nach den Geboten der Bibel.“
Sie fragten den Jungen nicht, woher er gekommen war. Was sie jedoch interessierte, war, ob er wisse, wann das Ende der Tage kommen werde. Goren „nahm ihren Glauben an“. „Kein Wunder“, so Yehuda Bauer, denn da die Wahrscheinlichkeit, gerettet zu werden, so gering war, war auch jeder der Rettungswege ungewöhnlich.
Yehuda Bauer hat mit seinem Buch Großes geleistet, indem er vom „maßlosen Schrecken“ erzählt und eine „Lektion in Menschlichkeit“ weitergibt.
Bettina Klix, Berlin
Jahrgang 22 / 2015 Heft 1 S. 54−55