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Miriam Magall

Auf dem Obasute-Yama

Oder: Verwirf’ mich nicht in meinem Alter!

Die Autorin, 1942 in Deutschland geboren, verbrachte die ersten drei Jahre ihres Lebens in einem Keller. Die Mutter war kurz nach ihrer Geburt gestorben, der Vater, ein Arzt, von den Nazis ermordet worden. Ein ehemaliges Dienstmädchen der Eltern nahm das kleine Mädchen auf. Erst im Alter von achtzehn Jahren erfuhr sie vom Schicksal ihrer Eltern und von ihrer jüdischen Identität. 1969 zog Miriam Magall nach Israel, zwanzig Jahre später kam sie wieder nach Deutschland zurück.

Bis vor etwa zehn Jahren hat Miriam Magall rund 300 Bücher übersetzt und jedes Jahr in der Dolmetscherkabine einer internationalen Organisation dafür gesorgt, dass sich Politiker, Wissenschaftler und Denker aus der ganzen Welt verstehen. Seither hat sie sich ausschließlich auf das Schreiben von Büchern verlegt.

Man ist sie gewöhnt, diese Familiengeschichten mit Mama und Papa, mit Omi und Opi, mit Hund und mit Katze, die in Hintertupfingen oder in Seldwyla (Gottfried Keller) spielen. Kleine, beschauliche Orte, mit leicht braun angehauchter Vergangenheit, was den Geschichten ein leicht verruchtes Gepräge verleiht. Man liebt sie, diese kleinen und kleinkarierten Geschichtchen, in denen sich jeder wiedererkennt. Und dann kommt Miriam Magall und erzählt Verstörendes.

Ihr erster Roman Die Blut-Braut. Eine politische Liebesgeschichte, damals noch unter dem Pseudonym Rachel Kochawi, um ihre Nähe zu ihren Sachbüchern zu verstecken, erzählt von einer anderen Idylle in einem fernen Land. Von „Siedlern“ und von „Freiheitskämpfern“, von geplantem Mord und tatsächlich ausgeführtem Massenmord.

Darauf lässt Magall in Nakajima die romantische Liebesgeschichte zwischen einer jungen schönen Israelin und einem alternden Wissenschaftler auf der japanischen Insel Hokkaido folgen. Nein, keine ästhetische Teezeremonie und auch keine blühenden Kirschbäume. Am Ende steht das rätselhafte Verschwinden der Protagonistin. In ihrem dritten Roman erzählt Magall (alias Rachel Kochawi) aus ihrem Leben, von der Geburt bis zum 25. Lebensjahr. Eine berührende Geschichte, wie selbst kritische Geister eingestehen müssen.

Aber warum versteift sie sich darauf, das Ganze aus der Warte des allwissenden Erzählers zu berichten? Warum schreibt sie nicht „Und ich ... und ich ... und ich“? Das wäre doch weitaus anrührender. Ja, sagt die Autorin, aber ihr viel zu nahe. Denn für sie ist gerade diese Geschichte ihre eigene Psychoanalyse, sie soll sie heilen vom Trauma ihrer Kindheit und Jugend.

Für ihren vierten Roman, diesmal unter ihrem richtigen Namen, hat sich Magall ein berühmtes Vorbild genommen: das Dekameron des Boccaccio. Zur Zeit der großen Pest in Florenz flieht eine Gruppe junger Menschen in die sicheren Berge. Dort in der Abgeschlossenheit erzählen sie sich Geschichten, bis sie wieder zurück nach Hause können. In einem Dorf auf Nord-Honschu herrscht um 1700 eine bittere Hungersnot. Die Dorfbewohner beschließen, ihre Alten auf dem Vulkan über dem Dorf auszusetzen, um sich überflüssige Esser vom Hals zu schaffen.

Genau das geschieht auch in Auf dem Obasute-Yama, mit einem Unterschied: Man wandelt zwischen den Zeiten, zwischen den Ländern und den Kontinenten. Die Alten bekommen ein modernes Altenheim auf dem Vulkan, werden mit modernsten Geräten behandelt und überwacht. Wie die Menschen in den Bergen von Florenz vor 660 Jahren [1348] erzählen sich die Alten Geschichten.

Es sind, wie Magall im Pressetext sagt, ihre eigenen Alpträume, gesammelt über einen langen Zeitraum und daher inhaltlich wie sprachlich sehr verschieden und doch packend, fesselnd. Wer einmal das Buch in die Hand genommen hat, legt es so schnell nicht wieder weg.

Viel Mühe gibt sich Magall mit dem Aufbau ihrer Geschichten: Einmal konstruiert sie sie wie ein Brechtsches Drama; die Erzählung Nakajima erinnert an den berühmten Film Rashomon. Die Biografie Das Brot der Armut. Die Geschichte eines versteckten jüdischen Kindes (vgl. die Rezension von Soraya Levin in: FrRu NF 18 [2011] 223 ff.) ist angelegt wie die Pessach-Haggada, beginnend mit dem Kiddusch als Einleitung; darauf folgen Sklaverei und die Wanderung in der Wüste, um schließlich mit dem Großen Hallel (Ps 136), dem großen Lobpreis, zu schließen.

Auf dem Obasute-Yama erinnert in seiner Struktur an die Zeit zwischen Pessach und Schawuot, dem Wochenfest. In diesen sieben Wochen bzw. 50 Tagen wird in religiösen jüdischen Kreisen „Omer“ gezählt: „Der erste Tag der ersten Woche“, „Der zweite Tag der ersten Woche“, und so fort bis zum 49. Tag der siebten Woche. In Auf dem Obasute-Yama geht die Omer-Zählung am siebenten Tag der vierten Woche jäh zu Ende.

Von Buch zu Buch wird Magalls Sprache anspruchsvoller, die Struktur ihrer Romane verschlungener. Man darf gespannt sein auf ihren nächsten Roman.

Dinah Marzuk, Berlin


Jahrgang 22 / 2015 Heft 1 S. 64−65


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