Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Leseproben > Rezensionen ab Jg. 2001 > 1427  

Home
Leseproben
Artikel ab Jg. 2001
Rezensionen ab Jg. 2001

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1986

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Artikel
Mitteilungen
Rezensionen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Klaus Wengst

Christsein mit Tora und Evangelium

Beiträge zum Umbau christlicher Theologie im Angesicht Israels

Dem evangelischen Neutestamentler ist ein Buch gelungen, das sowohl den Titel wie auch den Untertitel einlöst. Denn schon im Titel kündigt sich die Forderung einer grundlegenden Änderung der eingefahrenen lutherischen Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium an. Gesetz wurde aufgrund von Luthers radikaler Christozentrik zu einem negativen Begriff, der seine Lösung allein im Evangelium finden wird. Das aber führte zu Luthers Abwertung der Heiligen Schriften Israels, die auch die Heiligen Schriften Jesu waren, und insbesondere in der Spätzeit des Reformators zu derben antijüdischen Äußerungen. Dieser antijüdische Ton erwuchs aus Luthers Übersetzung von Tora als Gesetz und seiner Interpretation von Gesetz als „Leistungsgerechtigkeit“.

„Das ist die für den Protestantismus spezifische Judenfeindschaft. Sie ergibt sich gerade von seinem Zentrum her, der Rechtfertigungslehre. ‚Die Juden‘ als Typen werden auf das negative Gegenteil dessen festgelegt, was einem selbst als das Positivste gilt“ (43).

Dem hält Wengst die Tora entgegen. Die Gabe der Tora macht den Gnadencharakter der „Jesusschule“ deutlich; sie gilt der Jesusgemeinschaft als unverbrüchlich.

Die kritischen Überlegungen von Wengst in Bezug auf Luther verdeutlichen den Ernst des Untertitels: Es geht ihm um den Umbau christlicher Theologie im Angesicht Israels. Das ist keine modische Wendung, sondern Programm, denn was Wengst damit vorgibt und auch selbst ansatzweise durchführt, besagt nichts weniger als den Umbau auch christlicher dogmatischer Aussagen im Angesicht Israels, d. h. im Angesicht der Heiligen Schriften (AT und NT), die alle aus dem Kontext Israels kommen und nur von dorther zu verstehen sind. Das Dogma, so Wengst, ist nicht stärker als die Heiligen Schriften, es darf daher auch nicht den Sinn dieser Schriften durch Reduktionen beugen oder verstellen. Dass die christliche Lehre Israel nicht nur vergaß, sondern seine Motive unterdrückte, wird nicht nur an Luther deutlich, sondern hat eine breite Geschichte hinter sich.

Noch ein drittes Motiv weist auf den Israelbezug dieser Studie. Sie ist nicht in Kapitel gegliedert, sondern in zwölf Paragraphen. Die Zwölfzahl bezieht sich auf die zwölf Stämme Israels. Diese zwölf Paragraphen hat  Wengst in drei Hauptteilen angeordnet. Im ersten Teil, „Die eigene Ge schichte annehmen“ (13–73), schreibt Wengst von einer mehrfach schwierigen Aufgabe, die ihm individuell und religiös angesichts Israels zugewachsen ist. Als lutherischer Christ und Theologe kennt er den christologisch bestimmten Vollendungsanspruch, der Israel keinen Platz mehr zugestand. Und als Deutscher gehört Wengst zu einer Sprachgemeinschaft, die mit der Schoa das bisher exzessivste Verbrechen an der jüdischen Gemeinschaft begangen hat.

Ganz entscheidend wurden für Wengst die Begegnungen mit jüdischen Menschen (29), denn damit bekam der religionsgeschichtliche Begriff „Judentum“ ein lebendiges Gesicht und ließ das lutherische Bild des Juden verblassen (42). So wurde für Wengst auch ein Bruch sichtbar, der im Christentum stattgefunden hat, der

„Überlieferungsbruch [...], dass nämlich eine im jüdischen Kontext entstandene Tradition in einen nichtjüdischen Kontext übergegangen ist, dass die von Juden oder dem Judentum nahestehenden Menschen geschriebenen neutestamentlichen Schriften schließlich von einer nichtjüdischen Gemeinschaft rezipiert wurden, die ihre Identität in Antithese zum Judentum bestimmte“ (34).

Eines der problematischsten Ergebnisse liegt darin, dass man die Tora missachtet, den „von der Dogmatik her verstandenen Jesus Christus absolut“ (46) gesetzt und damit das biblische Zeugnis herabgesetzt hat. Trotz des von Luther eingehämmerten Prinzips sola Scriptura wurde letztlich die Dogmatik dem Schriftwort übergeordnet. Auch dem Prinzip solus Christus misstraut Wengst, wenn es nicht dem Prinzip „soli Dei gloria“ (51) unterstellt wird. Im Angesicht Israels verwirft Wengst sowohl den Primat der Dogmatik über die Tora wie auch eine Christozentrik, die den Gott Israels überlagert und verdeckt.

Im zweiten Teil, „Christlich-theologische Grundaussagen in Rückbesinnung auf die Bibel verstehen“ (75–157), geht es um die zentralen theologischen Themen: die Trinität, das Kreuz Jesu, das Abendmahl und die universale Heilsbedeutung Jesu. Hier wird der Anspruch des „Umbaus christlicher Theologie im Angesicht Israels“ inhaltlich bearbeitet. Interessant ist Wengsts Darstellungsweise der Trinität: Zum Einzig-Einen Gott Israels

„stehen wir als Nichtjuden in keiner unmittelbaren Beziehung, sondern in einer durch Jesus vermittelten [...]. Wir reden also in der Weise trinitarisch, dass wir zum Vater gekommen sind, zu ihm beten in Lob, Dank und Klage durch den Sohn kraft des Heiligen Geistes“ (77).

Das Sohnsein wird von der Sendung Jesu her bestimmt (81 f.), ist also relational und nicht wesenhaft (86). Die Verbindung wird über den unaussprech lichen Namen Gottes vermittelt, der in Israel und eben auch in Jesus zugegen ist (84, 93). Damit aber wird klargestellt: Gottes Wesen ist ewig Einzig- Eines, nicht trinitarisch. Das Trinitarische selbst wird zu einem Triadischen, das biblisch einsichtig ist, in dem nichts anderes bedacht wird als der Zugang, der Nichtjuden zu Israels Gott geschenkt worden ist. Wengst treibt auch die „Enthellenisierung der Trinitätstheologie“ (96) im Angesicht Israels offen voran – ein biblisch erfrischender Zugang zu einem theologisch verminten Gebiet.

Ähnlich radikal verfährt Wengst auch im Umgang mit den anderen genannten Themenbereichen.  Auch der dritte Teil – „Solidarische Partnerschaft mit Israel/Judentum gestalten“ (159–198) – orientiert sich an biblischem Reden, „das wenig mit dem Konstatieren von Satzwahrheit zu tun hat, aber viel mit Verlässlichkeit und Treue“ (159). Wengst plädiert dafür, angesichts der ernsthaften Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers, die nur möglich ist unter der Bedingung, „ein Stück weit vergessen zu können, wer ich bin“ (170), bereit zu sein, „sich auch ohne Angst ändern zu können“ (170).

Das wäre tatsächlich die weithin noch ausstehende Aufgabe eines aufrichtig geführten Lerndialogs des Christentums mit dem Judentum. Die Änderungen, auf die Wengst zielt, betreffen das dogmatische Selbstverständnis der christlichen Überlieferung, das „eine Kirche im Defekt“ mitverursacht hat, „die im Verhältnis zum Judentum zu einer Kirche im Exzess geworden ist“ (182).

Dass das nicht Vergangenheit ist, sondern Gegenwart, zeigt Wengst am 2009 veröffentlichten „Kairos-Palästina-Dokument“ (186–198; vgl. FrRu NF 18 [2011] 159), in dem alte Vollendungsvorstellungen dominieren, die an „schlimmer traditioneller Judenfeindschaft partizipieren“ (197), ein Vorwurf, den Wengst direkt an den Ökumenischen Rat der Kirchen richtet, der dieses Dokument erarbeitet hat.  Wengst hat in seinem Buch den Bruch zwischen der jüdischen und der heidenchristlichen Kirchengemeinschaft als eine Art Paradigma gesetzt, das u. a. auch mit dem Stichwort der Hellenisierung verdeutlicht wird.

Sein Argument ist stichhaltig, dass die Heidenchristen mit ihrem Denken kaum nachvollziehen konnten, was biblisch erzählt und bezeugt worden ist. Aus Geschichten und Bekenntnissen wurden Begriffe gestanzt, mit denen das biblische Zeugnis beherrscht wurde und gleichzeitig das Volk dieses Buches Heiliger Schriften zumindest als anachronistisch, oftmals als feindselig und [von Gott] verworfen degradiert wurde.

Doch hinter dieser Übertragung des biblischen Bekenntnisses in nichtjüdische Ausdrucksweise ver steckt sich m. E. ein fundamentales Problem, das vielleicht auch ein wesentlicher Grund für das Ende der jüdischen Jesustradition war: Das Bekenntnis zum (davidischen) Messias Jesus, von dem Paulus getrieben ist, das in den Evangelien in unterschiedlicher Intensität zugegen ist und die Dramatik der letzten Schrift des christlichen Kanons, der Offenbarung (Apokalypse) ausmacht, steigerte sich von Jahr zu Jahr, ohne dass die sehnsüchtig erwartete Vollendung eintrat.

Dieses eminente Messiasproblem betraf in dieser Weise jedoch nur die jüdische Jesusgemeinschaft, nicht aber das Denken der griechischen Dogmatik. Denn mit dem Ausbleiben der Erfüllung dieser Messiashoffnung verschwand auch das Profil der jüdischen Jesusgemeinschaft. Wengst hat dieses Problem nicht thematisiert, obwohl es der frühchristlichen Überlieferung zugrunde liegt. Diese Frage lädt zum Weiterdenken ein.

So ist Wengsts Buch eine jener spärlichen Perlen eines aufrichtigen Gesprächs mit dem Judentum, in dem sich die Lebendigkeit christlichen Lernens in Gemeinschaft mit dem Judentum in seiner anhaltenden Geschichte und Gegenwart zeigt, und in dem die Dringlichkeit dieses Lernens vehement vertreten wird – ohne Angst vor grundlegenden Veränderungen in der eigenen Lehre und ihrer Tradition, weil als einzig Feststehendes ohnedies allein der Ewige gilt, der Gott Israels, der der Gott des Jesus von Nazareth ist.

Wolfgang Treitler, Wien


Jahrgang 22 / 2015 Heft 1 S. 71−74

 



top