Die wegweisende Theologie dreier deutsch-jüdischer Brückenbauer: Franz Rosenzweig – Martin Buber – Schalom Ben-Chorin. Eine Anthologie.
In dieser Anthologie, die dem 100. Geburtstag von Schalom Ben-Chorin gewidmet ist, skizziert Yuval Lapide den Werdegang des christlich-jüdischen Dialogs anhand von Texten Franz Rosenzweigs (1886–1929), Martin Bubers (1878–1965) und Schalom Ben-Chorins (1913–1999). Alle drei schöpften aus dem 5000-jährigen „Wurzelsaft“ der jüdischen Tradition, der sich zur „Baumkraft“ des Dialogs entwickelt hatte. „Gern gebe ich diesem Buch mein Geleit, so wie ich 56 Jahre meinem lieben Mann das Geleit gab und ihn in seinem Werk weiter begleite“, schreibt Avital Ben-Chorin im „Geleitwort“ (S. 11). Aus vielen langen Gesprächen mit Martin Buber ist Ben-Chorins Buch „Zwiesprache mit Martin Buber“. Ein Erinnerungsbuch (1966) entstanden. Rosenzweigs Hauptwerk, „Der Stern der Erlösung” (1921), wurde Ben-Chorin zur „Richtschnur“ (S. 13), wie ihm Rosenzweig und Buber „Fixsterne“ (Avital Ben-Chorin, ebd.) des jüdisch-christlichen Gesprächs waren.
Im „Stern der Erlösung“ bezeichnet Franz Rosenzweig das Judentum als einen „Kern [...], von dessen Glut die Strahlen unsichtbar genährt werden“, die im Christentum „sichtbar und vielgespalten in die Nacht der heidnischen Vor- und Unterwelt brechen“ (S. 66). Doch die Christen hatten ihre jüdischen Wurzeln vergessen. Erst nach dem Holocaust hat die Kirche ihren Blick wieder auf das Judentum gerichtet. Der christlich-jüdische Dialog, so Ben-Chorin, entstand als „Gespräch aus der Schuld, teuer erkauft mit dem Blut von sechs Millionen jüdischer Opfer“ (S. 187). Martin Buber äußerte Verständnis für die, die aus Angst geschwiegen hatten. Doch mit den „echten Helden“, die Widerstand geleistet und Verfolgte gerettet hatten, sei er in Liebe verbunden. Die von Gott an alle Menschen gerichtete Frage „Adam, wo bist du?“ (Gen 3,9) will nicht etwas erfahren, sondern bewirken (vgl. S. 52, 99 f.).
Schalom Ben-Chorin litt darunter, dass seine Muttersprache, aus der er „nicht auszuwandern“ vermochte (S. 105), auch die Sprache der nationalsozialistischen Mörder war. Als er nach Jahrzehnten wieder deutschen Boden betrat, begegnete ihm eine neue Generation, die wissbegierig seine Vorträge über das Judentum aufnahm und die neue Saat bildete, auf der er den jüdisch- christlichen und deutsch-israelischen Dialog aufbauen konnte.
Martin Buber hat Jesus von Nazareth von Jugend auf als seinen „großen Bruder“ (S. 78) empfunden. Damit weist er dem Rabbi von Nazareth in dessen Eigenschaft als „Ur-” und „Nur-Jude“ (S. 73) die Rolle des Bindegliedes zwischen Juden und Christen zu. „Wenn ein Christ bei der Suche nach seiner eigenen Identität sich fragt: Bin ich ein Christ? Warum bin ich ein Christ? Was ist mein Christentum?, dann muss er dem Judentum begegnen als der Welt, in der sein Meister, sein Rabbi, gelebt hat“ (ebd.).
Auch die Bergpredigt, die von vielen Exegeten als Urbegriff der christlichen Lehre interpretiert wird, weist Ben-Chorin als durchaus jüdisch aus (vgl. S. 89): Für die Glaubenswirklichkeit des biblischen und nachbiblischen Judentums – und auch für Jesus in der Bergpredigt – ist die Erfüllung der Tora das Wesentliche. Laut Ben-Chorin war Jesus ein Tannait, ein Ausleger der Tora, zugehörig dem pharisäischen Judentum seiner Zeit, das die jüdische Lehre von blinder Beachtung der Gebote zur lebendigen Hingabe an Gott zu führen suchte. Die Lehre Jesu ist Teil dieses „selbstkritischen Prozess[es]“ der pharisäischen Gesellschaft, in der Jesus gelebt hatte (ebd.).
Martin Buber weist darauf hin, dass auch das Prinzip der Feindesliebe „im jüdischen Mutterboden“ wurzelt (S. 85). Im Judentum kam diese Feindesliebe besonders im Chassidismus des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck. So befahl zum Beispiel ein Zaddik, ein Gerechter, seinen Söhnen: „Betet für eure Feinde, dass [es] ihnen wohlergehe.“ Und ein anderer Zaddik antwortete auf die Frage eines Schülers, ob man auch diejenigen lieben könne, die sich gegen Gott erheben:
„Weißt du nicht, dass die Urseele aus Gott kam und jede Menschenseele ein Teil von ihr ist? Und wenn du siehst, wie einer der Heiligen Funken sich verfangen hat und am Ersticken ist, wirst du dich seiner nicht erbarmen?“ (S. 85 f.).
Franz Rosenzweig war nahe daran, sich taufen zu lassen, beschloss aber letztendlich, Jude zu bleiben. Seine entscheidenden Überlegungen fasste er in einer Ergänzung zu Joh 14,6 („Niemand kommt zum Vater, als durch mich“) zusammen:
„ [...] anders aber, wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel.“
Diese johanneische Aussage, so Rosenzweig, betrifft nur die Heiden. Die Aufgabe des Volkes Israel aber hat eschatologische Dimensionen:
„Das Volk Israel, erwählt von seinem Vater, blickt starr über Welt und Geschichte hinüber auf jenen letzten fernsten Punkt, wo dieser sein Vater, dieser selbst, der Eine und Einzige – ‚Alles in Allem‘ – sein wird. An diesem Punkt, wo Christus aufhört, der Herr zu sein, hört Israel auf, erwählt zu sein; an diesem Tage verliert Gott den Namen, mit dem ihn allein Israel anruft, Gott ist dann nicht mehr ‚sein Gott‘. Bis zu diesem Tage aber ist es Israels Leben, diesen ewigen Tag in Bekenntnis und Handlung vorwegzunehmen, ein lebendes Vorzeichen dieses Tages darzustehen, ein Volk von Priestern mit dem Gesetz, durch die eigene Heiligkeit den Namen Gottes zu heiligen“ (S. 101; nach Franz Rosenzweig).
Ähnlich lauten – bildlich ausgedrückt – die Worte des Propheten Jesaja über die Aufgabe des Volkes Israel, ein Licht („Stern der Erlösung“) für alle Völker der Welt zu werden:
„[...] den Weltstämmen gebe ich dich zum Licht, dass meine Freiheit werde bis an den Rand des Erdreichs“ (Jes 49,6).
Die Anthologie enthält auch Texte aus der Buber-Rosenzweig-Übersetzung. Dem hebräischen Urtext die Treue haltend, angereichert mit neuen deutschen Wortschöpfungen, kann diese Übersetzung entscheidend dazu beitragen, Missdeutungen, die zu Vorurteilen führen, zu vermeiden:
„Geschieht das Ärgste aber, dann gib Lebenersatz für Leben – Augersatz für Auge, Zahnersatz für Zahn, Handersatz für Hand, Fußersatz für Fuß, Brandmalersatz für Brandmal, Wundersatz für Wunde, Striemersatz für Strieme“ (Namen [Ex] 21,23).
Die Übersetzung bringt zum Ausdruck, dass „der Schädiger verpflichtet ist, dem Geschädigten für den verursachten Schaden Ersatzleistung zu erbringen. Keinesfalls wird dem Geschädigten der Freiraum geboten, an seinem Schädiger Rache zu üben“ (S. 27). Diese Lex talionis wurde in der christlichen Lehre fälschlicherweise als „jüdisches Racheprinzip“ („Gesetz der Vergeltung“) dargestellt. Doch Gen 21,23 spricht nicht vom strafenden Wegnehmen, sondern vom gerechten Geben (Ersetzen).
Buber und Ben-Chorin verband der „lebendige Glaube, das bedingungslose Vertrauen in Gott, wie es in der hebräischen Emuna zum Ausdruck kommt“, und das Wissen um die „Verschüttung“ dieses Glaubens:
„Lavamassen von intellektueller Dialektik einerseits und minutiöser Kasuistik [...] andererseits haben sich über den Glauben Israels, die Quelle seines Lebens, gelegt. Man hat vergessen, dass [...] alle 613 Gebote und Verbote des rabbinischen Kodex in einem Satz kulminieren sollen: ‚Der Gerechte lebt durch seinen Glauben‘ (Hab 2,4). Wer im Glauben steht, in der Emuna, [...] der hat den Schlüssel zum Gesetz gefunden“ (S. 122.).
Die vorliegende Anthologie mit Zitaten aus den Werken dreier großer jüdischer „Bewusstseinserneuerer“ vor und nach der „Gottesfinsternis“ der Schoa (Martin Buber) empfiehlt sich sowohl für Laien als auch für Kenner des jüdisch-christlichen Gesprächs. Die ausgewählten Texte fordern heraus zu einer authentischen inneren Standortbestimmung.
Monika Beck, Aachen
Jahrgang 22 / 2015, Heft 3, S. 219−222.