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Chaim Noll

Die Synagoge

Roman

„Die Synagoge ist eigentlich nichts als ein Versammlungsort, Beth haKnesset, und das steht in allen Mienen geschrieben, als man sich am Eingang begegnet, begrüßt, in die Halle tritt. [...] Wenn dieser Ort sonst Anlass unserer Entzweiung ist, soll er jetzt, für die Dauer einer Stunde, sein, wozu er eigentlich gedacht war: der Ort, der uns eint.“ Dass eine vernachlässigte Synagoge in einer (fiktiven) israelischen Kleinstadt am Rand der Wüste sich plötzlich wieder füllt, ist die Folge eines Anschlags.

An einem 9. November wird eine Torarolle verbrannt. Es gibt zwar kein Bekennerschreiben, aber eine „Erläuterung“ am Tatort: „Jemand hat rechts vom Tora-Schrein in krakeliger Schrift drei Worte gekritzelt [...]. Tipshim ist das erste: [...] Ihr Dummköpfe! Dazu das berühmte Diktum aus Nietzsches Buch ‚Die fröhliche Wissenschaft‘, allerdings in hebräischer Übersetzung: elokim met, Gott ist tot. Mit der Besonderheit, dass der gebräuchliche Gottesname, eigentlich elohim, mit kuf in der Mitte geschrieben wurde, wie es fromme Juden tun, um die Profanierung des Namens zu vermeiden.“

Dieses kleine Detail ist ein Indiz, das zwar nicht zur Aufklärung der Tat beiträgt, aber als Zeichen der Hoffnung für den Täter dient. Denn sehr schnell stellt sich heraus, dass diese Aggression aus der Mitte der Gesellschaft kam, von einem jungen jüdischen Mann, Holly, der seinen Platz bisher nicht finden konnte, weil er durch seine Kriegsdienstverweigerung von einem zum anderen Tag zum Außenseiter wurde. Er ist zwar Veganer, aber nicht getragen vom Mitgefühl für die Geschöpfe, sondern vom Hass gegen seine Mitmenschen. Medikamenten- und Drogenmissbrauch entwurzeln ihn immer mehr, und so missversteht er sich selbst als Atheist. Zwar kennt er Nietzsches These Gott-ist-tot, aber nicht den Zusatz: „[...] dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist, beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen“ (Hervorhebung d. Verf.).

Der orientierungslose junge Mann hat ein Spiegelbild, auf das er seinen Hass lenkt: ein ehemaliger amerikanischer Geschäftsmann, ein Aussteiger. Am Anfang des Romans unternimmt der Amerikaner, gekleidet als ultraorthodoxer Jude, von Jerusalem aus eine Pilgerfahrt an den Ort der eingangs erwähnten Synagoge, der ihm als besonders gottlos erscheint. Doch die Wüste erinnert an das Geheimnis Gottes und seine vielen Manifestationen in der Geschichte des Volkes Israel.

Der junge Mann (Holly) sieht den Amerikaner, den Mann in Schwarz, den einsamen Mann Gottes als Vorhut der Ultraorthodoxen, für ihn ein bedrohliches Signal, dass „sie“, die Orthodoxen, nun auch hier ihren Platz einfordern. Holly weiß nicht, dass er mit diesem spätberufenen Rabbi einiges gemeinsam hat, etwa dessen Sicht auf den maßlosen Konsum, der Teil seines früheren Lebens war. Dabei handelt es sich nicht um oberflächliche Konsumkritik, sondern um eine spirituelle Sicht auf gewohnheitsmäßige Zerstörung, die durch die Angst vor Verfall und Tod diktiert wird. Der Rabbi hatte sich zu dieser Sicht der Dinge nach dem Vortrag eines Rabbiners bekehrt, den dieser mit den Worten eröffnet hatte: „Who is you? Pardon my grammar ... who is ‚you‘? Abgesehen von Name, Beruf, Einkommen, Besitz, sozialer Stellung – was bliebe übrig?“ Diese Frage hatte ihn tief erschüttert, er fühlte sich außerstande, sie zu beantworten.

Die Erzählung setzt zwei Monate früher ein: „Der elfte September war ein Dienstag. Abi [...] begann seine Eintragung [in sein Tagebuch] am Dienstagmorgen über den Terroranschlag auf Nahariya am Sonntag, dem neunten September, nachdem er erst gestern mit einem Tag Verspätung davon erfahren hatte. Der Anschlag in Nahariya war kein guter Auftakt für die neue Woche, doch inzwischen waren solche Zwischenfälle alltäglich, so dass sich der Überraschungseffekt abgenutzt hatte.“

Das deutsche Einwandererpaar Abi und Livia besitzt keinen Fernseher. Ein täglicher Blick auf die Schlagzeilen in den im Supermarkt ausliegenden Zeitungen muss genügen. Oder die Information kommt über das Telefon: „Schon gehört, was passiert ist?“ „Was meinst du?“ „Der Anschlag.“ „In Nahariya?“ „In New York.“ „Nein, nichts davon gehört.“ Danach gibt Abi seiner Frau die Schilderungen weiter: „Sie scheinen unter Schock zu stehen. Sie wurden erstmals auf eigenem Gebiet angegriffen.“ Aber Bilder von den Ereignissen beschaffen sie sich nicht.

Es ist bewegend, den elften September 2001 einmal von Israel aus, zur Zeit der zweiten Intifada, zu erleben, flankiert von Meldungen tödlicher Terroranschläge im ganzen Land. Perspektivewechsel, die überraschende Erkenntnisse bringen, durchziehen das ganze Buch. In den Gesprächen von Abi und Livia spielt auch immer die Sicht eine Rolle, die sich aus ihrer deutschen Herkunft ergibt. Sie nehmen die Schändung der Synagoge schwerer als die anderen Israelis, da sie sich vor solchen Taten in Israel sicher wähnten. Da der Tag des Anschlags, der 9. November, eine bewusste Wahl gewesen zu sein scheint, stellt sich die Frage, ob es eine „Überzeugungstat“ war, und wenn ja, was sich hier ausspricht, „wenn jemand erst jüdische Bücher, dann eine Tora-Rolle, zum Schluss, sozusagen als Höhepunkt, ein israelisches Armeeauto anzündet. Und wie ein hier geborener, im Land aufgewachsener, in hiesigen Schulen erzogener Junge zu diesen Überzeugungen kommt. Wenn ein Nichtjude all das getan hätte, würde man ohne zu zögern von Judenhass sprechen, von Antisemitismus. Aber in diesem Fall? Der Täter ist Jude, ein Kind dieses Landes.“

Der in der DDR geborene Chaim Noll, der seit 1995 in Israel lebt, erzählt, kunstvoll verwoben, die Geschichte des kleinen Wüstenstädtchens, seiner Bewohner, ihrer Schicksale und des Gotteshauses, das durch den Angriff wieder zur Stätte der Begegnung und Versöhnung einer gespaltenen Gemeinschaft wird.

Bettina Klix, Berlin


Jahrgang 22  / 2015, Heft 3, S. 224−226.


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