Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Leseproben > Rezensionen ab Jg. 2001 > 1442  

Home
Leseproben
Artikel ab Jg. 2001
Rezensionen ab Jg. 2001

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1986

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Artikel
Mitteilungen
Rezensionen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Stefan Klemp

Vernichtung

Die deutsche Ordnungspolizei und der Judenmord im Warschauer Ghetto 1940–43

Man „weiß schon alles“ über die Ermordung der Juden in der Zeit von 1933 bis 1945; man meint, alle Aspekte hinsichtlich der Täter wurden eingehendst recherchiert. Man weiß, man meint! Wenn man dieses Buch in die Hand nimmt, wird man eines Besseren belehrt: „Die Polizei, dein Freund und Helfer“, eine Legende, gestrickt von ehemaligen Offizieren, war genauso tief im Sumpf der Grausamkeiten und Morde an Juden verwickelt wie die Waffen- SS und die Wehrmacht. Nur ist es ihr bisher, nicht zuletzt dank dieses Slogans, gelungen, sich eine vorgeblich weiße Weste zu erhalten.

Stefan Klemp ist es zu verdanken, dass er die riesigen braunen Flecken sichtbar macht, die diese Weste beschmutzen. Vor allem, aber nicht nur, anhand des Aufstands im Warschauer Getto im April/Mai 1943 führt Klemp beispielhaft vor, wie einzelne Polizeibataillone an der Zerschlagung des Aufstands beteiligt waren. Akribisch beschreibt er, wann und wo Polizeibataillone in Warschau bis 1942 und danach bei der Vernichtung des Gettos 1943 aktiv waren und wie sie sich „auszeichneten“. Wie mörderisch ganze Bataillone oder auch einzelne Angehörige agierten, das beweisen allein schon die Spitznamen, unter denen sie in Warschau berühmt-berüchtigt waren: Duschek Judenschreck, Der Töter oder Totenkopfjäger. Schutzpolizisten wetteifern, wer wohl die meisten Juden erschießt; die Spitzenreiter werden als Schützenkönig ausgezeichnet. Ein Großteil der Polizeibataillone stammt aus Dortmund, aus Bochum und aus Duisburg.

Ebenfalls sorgfältig geht Klemp der Frage nach, wer nach dem Krieg was recherchiert hat, wer bestraft wurde für seine Morde und was mit den Mördern geschah. So diskutieren Christopher Browning und Rolf Pohl, ob man die Mörder als normale Menschen bezeichnen könne oder ob die Grenzen zwischen Normalität und Pathologie fließend sind. Klemp selbst kommt nach einer längeren Diskussion der Frage zu dem Schluss, dass es sich bei den brutalsten Mördern um Psychopathen handelt.

Für die Zeit danach unterscheidet Klemp zwischen Prozessen in Dortmund und in Hamburg (vgl. FrRu NF 20 [2013] 280–286) und vergleicht den Umgang mit den Mördern nach dem Krieg in der BRD mit dem der Sowjets und der DDR. Während die Sowjets sie, so Klemp, zu pauschal verurteilen – und hinrichten, tut sich dagegen in Deutschland nichts oder kaum etwas. In Dortmund wird ohne jüdische Zeugen verhandelt, wenngleich aussagekräftige Zeitzeugenberichte, z. B. von Wladyslaw Bartoszewski und Janina Bauman vorliegen, und Dan Kurzman, Josef Wulf und auch Israel Gutman über das Getto, den Aufstand und die Täter aus der Sicht der Getto- Bewohner detailliert und kenntnisreich geschrieben haben. Die Schutzpolizei wird damals übrigens gar nicht mit den Verbrechen im Warschauer Getto in Verbindung gebracht; diese werden allein SS und Gestapo angekreidet. Erst in den 1990er Jahren finden die Verbrechen der Schutzpolizei dank der Veröffentlichungen von Browning und von Daniel Goldhagen Beachtung.

„Für die Ermittlungen“, so Klemp, „gegen Ordnungspolizisten ist kennzeichnend, dass bundesdeutsche Staatsanwaltschaften in der Regel zu spät, häufig ohne das erforderliche Engagement und oft erfolglos ermittelt haben [...]. DDR-Verfahren sind [...] systematischer geführt worden“ (229 f.).

Abgesehen von der Tatsache, dass Klemp einen Großteil der besonders sadistisch agierenden Mörder als Psychopathen definiert, dem ich nicht zustimmen mag, ist seine Untersuchung der deutschen Ordnungspolizei im Zusammenhang mit dem Mord an Juden in Warschau wichtig und längst überfällig. Die meisten Täter werden nie gerichtlich belangt, sondern dürfen unbehelligt in den Ruhestand treten und in ihrem Bett sterben – etwas, was sie ihren Opfern nicht zugebilligt haben. – Die Lektüre dieses Buches ist jedem zu empfehlen, der sich für die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert interessiert.

Miriam Magall, Berlin


Jahrgang 21 / 2014, S. 68−69.

 



top