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Andreas Bedenbender (Hg.)

Judäo-Christentum

Die gemeinsame Wurzel von  rabbinischem Judentum und früher Kirche

Dies  ist die Dokumentation einer wissenschaftlichen Tagung im August 2009 in  Greifswald, deren Ziel es war, auszuloten, welche Impulse das von  Daniel Boyarin entwickelte Modell eines Judäo-Christentums bietet,  wonach das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum in den ersten  Jahrhunderten n. Chr. nicht nach dem traditionellen Separierungsmodell  („the parting of the ways“), sondern nach dem Paradigma des  Kontinuumsmodells („the ways that never parted“) zu verstehen ist.  Boyarin, der 2004 mit seinem Buch „Border Lines“ den  christlich-jüdischen Dialog herausgefordert hat, war selbst anwesend;  ebenso Gesine Palmer, die sein Werk unter dem Titel „Abgrenzungen“ ins  Deutsche übersetzte (vgl. FrRu NF 18 [2011] 297 f.).

In den  ersten beiden Beiträgen von Andreas Bedenbender geht es um das  Verständnis der pharisaioi in den synoptischen Evangelien bzw. der  perushim in der rabbinischen Literatur. Der Verfasser beschäftigt sich  mit dem Vorwurf in Mt 23,29–31 („Weh euch, ihr Schriftgelehrten und  Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Propheten Grabmäler baut ...“),  indem er ihn vor dem Hintergrund zeitgenössischer Quellen analysiert.  Dabei ist sein Hauptargument, „dass die relativ altmodische  Altertumswissenschaft – die eingehende Erforschung der Vergangenheit als  Ganzer – mit ein wenig Hilfe von den Sozialwissenschaften bei der  Restauration der verlorenen Stimme der Pharisäer helfen kann, indem sie  diese vor apologetischen und feindseligen Kritikern gleichermaßen  rettet“ (14).

Auch Folker Siegert beschäftigt sich mit den  Pharisäern. Entgegen der häufig geäußerten Auffassung, das  Johannesevangelium sei eine der am stärksten von Antisemitismen  geprägten Schriften des Neuen Testaments (aufgrund von Stellen wie z. B.  Joh 8,44), vertritt Siegert die These: „Zu den authentischen Zügen des  Johannesevangeliums – befreit man es nur erst von zahlreichen  redaktionellen Übermalungen – gehört ein freundliches Bild des  Pharisäismus zur Zeit Jesu. Insbesondere Nikodemus, eine vom  Evangelisten eingeführte Symbolfigur, steht in seinen drei Auftritten  [...] für ein für Jesus aufgeschlossenes, seine Bedeutung dann aber doch  verkennendes Judentum“ (70).

Anhand einer Exegese der  entsprechenden Verse in Joh Kapitel 3,7 und 19 zeigt Siegert dies im  Einzelnen auf. In seinem zweiten Beitrag beschäftigt er sich mit der  spezifischen Pessach-Tradition der Johanneschristen und regt auch hier  zu einer Relecture des vierten Evangeliums an: Nicht Judaismus oder  Legalismus, sondern Traditionalismus (d. h. die Verpflichtung auf eine  alte, authentisch bewahrte Tradition) war es, was die Johanneschristen  zu ihrer von der Großkirche abweichenden Praxis bewog; um des Friedens  willen haben sie sich im Lauf der Zeit der Mehrheit angepasst und sind  von einem jährlichen Gedenken an das Abschiedsmahl Jesu (vom Wochentag  unabhängig) zu einer wöchentlichen Feier übergegangen (die am Sonntag  stattfand und somit auch den Ostertermin an den Ostersonntag band).

Daniel  Boyarin setzt sich in dem ersten seiner Artikel intensiv mit Peter  Schäfers Buch „Jesus im Talmud“ (Tübingen 22010, vgl. FrRu NF 20 [2013]  224 ff.) auseinander. Er hält es in seiner Materialfülle zwar für einen  Fortschritt gegenüber dem älteren Werk von Johann Maier (Darmstadt  1978), kritisiert jedoch die Tendenz Schäfers, der bei fast allen  Bezugnahmen auf das Christentum im Talmud den Vorwurf sexueller  Ausschweifungen zu finden meint. Boyarin bemüht sich um eine Widerlegung  und macht an zahlreichen Beispielen deutlich, dass die rabbinischen  Schriftsteller das Christentum nicht wegen moralischer Verfehlungen,  sondern wegen lehrmäßiger Differenzen kritisiert haben.

Besonders  bemerkenswert ist dabei, dass Boyarin seine Überzeugung nicht nur  vertritt, sondern zugleich auch selbstkritisch reflektiert: „Warum ist  das für mich so eine brennende Frage? Während ich mich durch die Details  der Philologie arbeite [...], werde ich auch darüber nachdenken, was  hier für mich auf dem Spiele steht, denn das ist, wie es scheint, eine  ganze Menge (der Talmud wurde schließlich in Paris und Rom auf der  Grundlage von Verdächtigungen auf dem Scheiterhaufen verbrannt, die  denen Schäfers sehr ähnlich sehen)“ (123 f.). Wenn Wissenschaft  persönlich wird, wird sie auch authentisch – und es ist nicht zuletzt  dieser besondere Stil Boyarins, der das Gespräch mit ihm so  herausfordernd und bereichernd macht.

In seinem zweiten Beitrag  „Über den theologischen Verkehr der Kirchenväter und der babylonischen  Rabbinen in der Spätantike“ bringt Boyarin die Grundauffassung der  Tagung und der daraus entstandenen Publikation auf den Punkt: Es gab  eine solche Fülle an Bezügen zwischen diesen beiden Personengruppen,  dass die Rede vom „Judäo-Christentum“ gerechtfertigt ist. Gesine Palmer  unterstreicht dies in ihren Ausführungen „Von einem Bindestrich“  (anknüpfend an Gedanken von Jean-François Lyotard in: ders. / Eberhard  Gruber, Ein Bindestrich – Zwischen ‚Jüdischem’ und ‚Christlichem’,  Düsseldorf 1995, 27–51).

Insgesamt ist dies ein lesenswertes und  anregendes Buch, das die Diskussion über den Paradigmenwechsel in der  Betrachtung des christlich-jüdischen Verhältnisses in der Spätantike  weiter vertiefen wird.

Jutta Koslowski, Gnadenthal


Jahrgang 21 /2014, Heft 1, S. 63−65.


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