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Friedrich-Wilhelm Marquardt / Chana Safrai

Talmud lernen

Berliner Vorträge 1992–2001

Bei den von Andreas Pangritz herausgegebenen Vorträgen handelt es sich um Vorträge, die von der rabbinisch ausgebildeten jüdischen Religionswissenschaftlerin Chana Safrai (1946–2008) und dem evangelischen Theologen Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002) zwischen den Jahren 1992 bis 2001 in alljährlich stattfindenden Wochenendtagungen an der Evangelischen Akademie Berlin gehalten wurden. Die wenig überarbeiteten, aus Tonbandaufzeichnungen transkribierten ersten Vorträge Safrais sind auch als Zeitdokument interessant, aber für Erst-Leser gewöhnungsbedürftig.

Ziel der Tagungen war, eine überwiegend christliche Hörerschaft in ausgewählte Texte des Talmud einzuführen. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist nicht einfach. Darin stimmten Safrai und Marquardt überein, denn es bedarf einer ‚Übersetzungs‘-Hilfe, weil Christen, wenn sie erstmals mit Texten aus den Schriften des Talmud (Mischna und Gemara) konfrontiert werden, einer ihnen ‚fremden Welt‘ begegnen (vgl. Andreas Pangritz, Was geht uns Christen der Talmud an? F.-W. Marquardts Lektüre zum Traktat Kidduschin, in FrRu NF 16 [2009] 193–202; ders., Talmud lernen heißt Jesus begegnen, in FrRu NF 17 [2010] 171–178).

Talmudische Texte entstammen einer jüdischen Lebens- und Gemeinschaftspraxis, die sich in christlicher Tradition aufgewachsenen Menschen nicht auf den ersten, und auch nicht auf den zweiten Blick ohne Weiteres erschließt. Das bezieht sich sowohl auf Inhalte und auf die Art der Fragestellung und ihre Antwort, wie auch auf die eher kasuistisch assoziative Argumentation, die nicht der westlich-philosophischen Natur entspricht und daher ungewohnt ist. Das wird in den vorgelegten Beiträgen mehr als deutlich und macht ein Verstehen des Talmud für einen ‚Außenstehenden‘, der sich vielleicht zum ersten Mal damit beschäftigt, nicht gerade einfach.

Chana Safrai, seit 1992 Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, gelingt es bereits in ihrem ersten Beitrag, die Bedeutung des Talmud für jüdisches Leben und Lernen (beide Begriffe könnten fast synonym verwendet werden) zu verdeutlichen. Talmud-Lernen ist für den gläubigen Juden ein wesentlicher Baustein jüdischer Identität. In diesem Zusammenhang weist Marquardt hier – inpositivem Sinn konsequent seiner Christologie folgend – provokativ darauf hin, dass, wer Jesus, Paulus und die Evangelisten von ihrem Grund her kennen und verstehen lernen will, Talmud lernen muss, weil in den Schriften des Talmud ihre ureigene jüdische Identität gründet, in der sie lebten, dachten und glaubten.

Außerdem wollten diese Autoren neutestamentlicher Schriften nicht, wie es uns die christlich-theologische Tradition (hier nennt Marquardt auch eigene Lehrer) bis heute weismachen wolle, aus dem Judentum heraus-, sondern gerade in – im guten Sinne – pharisäisches und rabbinisches Judentum hineinführen. (Pharisäisches Judentum bezeichnet hier eine religiöse Bewegung von Gesetzeslehrern unterschiedlicher Richtungen. Schalom Ben-Chorin spricht von sieben Arten von Pharisäern.) Und darum sei das Studium des Talmud mit Hilfe jüdischer Lehrer, das sei wiederholt betont – weil es nur mit deren Übersetzungshilfe geht –, auch für Christen lohnend. Denn die Kenntnis dieser Schriften diene grundlegend auch dem Verständnis christlicher Identität.

Während Safrai in ihren Vorträgen über einzelne Traktate des Talmud eine Welt zu erschließen versucht, die im ersten Wahrnehmen sehr fremd anmutet, gelingt es Marquardt in seinen begleitenden Beiträgen immer wieder, Verbindungen zu zentralen christlichen Inhalten – wie Inkarnation, Abendmahl, Gesetz und Evangelium, Rechtfertigung – aufzuzeigen. Er weiß, dass er im Grunde nur ‚Assoziations-Räume‘ benennen kann, „um für Christen wenigstens allererste Anknüpfungspunkte oder Verstehenshilfen für Talmud- Texte zu finden, die uns auf den ersten Blick oft sehr fremd und chaotisch erscheinen“.

Wenn neben den Evangelien (so Leo Baeck) auch andere Schriften des Neuen Testaments als Quellen jüdischen Glaubens anerkannt und die Schriften des Neuen Testaments im Kontext des Talmud gelesen und verstanden werden, erschließt sich für Christen eine bereichernde und neue Sicht auf die Quellen ihres Glaubens und eine vollkommen neue Hermeneutik. Darum ist die Lektüre der Vorträge über ‚Talmud lernen‘ neben der ‚Provokation‘ Marquardts eine auch hier positiv zu verstehende ‚Zumutung‘ für Christen, zumal für die Curricula akademisch theologischen Studiums und deren christliche Lehrer.

Holger Banse, Adenau


Jahrgang 22 /2015 Heft 3, S. 149−150.


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