Rabbinerin Elisa Klapheck, 2004 ordiniert, ist nach einer Amtszeit in Amsterdam (2005–2009) seit 2009 Rabbinerin des Egalitären Minjan in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Die als Politologin ausgebildete ehemalige Journalistin beschreibt ihren Werdegang in der Autobiographie „Wie ich Rabbinerin wurde“ (Freiburg i. Br. 2012). Ihrem Vorbild, der ersten Rabbinerin Deutschlands, widmete sie die Monographie „Fräulein Rabbinerin Jonas. Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ (Berlin 1999). Regina Jonas wurde 1935 von Dr. Max Dienemann ordiniert und 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet. 2003 veröffentlichte Klapheck die bereits früher (1936, 1946, 1954) herausgegebene Anthologie „Bertha Pappenheim – Gebete / Prayer“.
Der vorliegende Band ist keine eigentliche Biographie der Philosophin Margarete Susman (1872–1966), obwohl die wichtigsten biographischen Daten vermerkt werden, sondern eine ausführliche Würdigung ihres Gesamtwerks. Jedes einzelne Kapitel wäre eine Besprechung wert. Hauptinteresse dieser Rezension ist die Frage nach der Einstellung Susmans zum Judentum. In ihrem im Schweizer Exil verfassten Werk „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“ (1946, 2. Auflage 1948) schrieb Susman:
Israel hat am Sinai die Thora angenommen, und es hat sie nicht nur für sich, es hat sie für die Menschheit angenommen. Dass die Gerechtigkeit, die dies Gesetz verkündet, wie die Schuld, zu deren Überwindung es gegeben ist, nicht nur für ein Volk, sondern für die Menschheit gilt, spricht getreu dem Ursinn Israels das Wort der Überlieferung aus: ‚Hätte Israel am Sinai die Thora nicht angenommen, so hätte Gott die Welt ins Chaos zurückverwandelt, oder die Engel hätten die Welt vernichtet‘“ (S. 352).
Das Zitat erinnert an die Jesaja-Worte:
„Zu gering ists dafür, dass du mir Knecht wardst, / zu erstellen Jaakobs Stäbe, / die Bewohner Jisraels umkehren zu lassen, – / den Weltstämmen gebe ich dich zum Licht, / dass meine Freiheit werde bis an den Rand des Erdreichs“ (Jes [Jeschajahu] 49,6; Übersetzung nach Buber/Rosenzweig).
Schalom Ben-Chorin betont in seinem Buch „Die Erwählung Israels. Ein theologisch-politischer Traktat“ (München 1993), dass Israel aufgrund dieses Wortes des Propheten Jesaja sich ‚erwähltes Volk‘ zu nennen berechtigt ist. Der Gedanke an diese Erwählung – nicht nur im religiösen, sondern auch im politischen Sinn – durchzieht Susmans Werk.
Margarete Susman gehörte der Generation der „jüdischen Renaissance“ in Deutschland an, zu der auch der „Kulturzionist“ Martin Buber, der soziale Anarchist Gustav Landauer, der Philosoph Franz Rosenzweig und viele andere gezählt werden. Ihre Anhänger hatten sich sowohl von der strengen Orthodoxie wie auch vom assimilierten Liberalismus ihrer Eltern verabschiedet. Das von ihnen vertretene Judentum nahmen sie nicht mehr nur als Religion, sondern auch als Nation wahr, und zwar innerhalb Deutschlands, mit dem Ziel, die deutsche Gegenwart mit jüdischer Kultur zu durchdringen und zu retten. In ihren zahlreichen Essays übertrug Susman diese Aufgabe der kulturellen Erneuerung schrittweise auf die ganze Menschheit.
Mit der Feststellung, der Mensch erfahre Offenbarung in der Schöpfung, greift Susman auf die Philosophie Baruch Spinozas zurück, ohne jedoch dessen Pantheismus zu übernehmen. Offenbarung erfährt der Einzelne „in sich selbst“, um sie in der Gemeinschaft zu verwirklichen. Auch im Judentum nimmt die Offenbarung den Weg vom Einzelnen zur Gemeinschaft:
„Moses empfing die Lehre vom Sinai und überlieferte sie dem Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der großen Versammlung“ („Sprüche der Väter“ [Pirkei Avot], übersetzt und erklärt von Dr. S. Bamberger, 1. Auflage Frankfurt a. M. 1897; Neuauflage 1981, S. 1 f.).
Das vom Menschen in seinem Inneren Erfahrene muss, so Susman, auf das Äußere wirken. Nur so kann die innere Erfahrung (Offenbarung) Früchte tragen.
Das „göttliche Gesetz“ steht im Mittelpunkt von Margarete Susmans Philosophie. Klapheck erklärt, dass nach Susman das ins Irdische einbaubare Gesetz von Gott her den Abgrund überbrücke. Im Gegensatz zu anderen Susman-Rezensenten betont sie auch den Einfluss des rabbinischen Judentums auf Susmans Werk. Gemäß der rabbinischen Tradition sind die Gebote und Verbote der Thora nicht unwandelbar, sondern „Thora erschafft Thora“. Mischna bedeute sowohl „Wiederholung“ als auch „Wandel“.
„Wandel“ ist ein maßgebender Begriff in der Philosophie Susmans. In seinem Namen befürwortet sie auch den politisch-revolutionären Wandel mit der Begründung, auch die biblischen Propheten hätten politisch und revolutionär agiert. Ihr Wirken habe stets etwas Neues, einen Umschwung bewirkt. Der Weg hin zum Wandel ist Teschuwa (Umkehr, Reue). Selbst Gott ist ‚politisch‘. Durch die Sinaioffenbarung entstand Israel als Nation. Die Erlösung ist deshalb von der messianischen Zukunft her zu sehen. Die beiden typisch jüdischen Aspekte Tun und Teschuwa sind die bewegenden Momente, die Wandel erzeugen. Liebe ist nach Susman nicht das (falsch verstandene) christliche Gegenteil zur Strenge des Gesetzes, sondern ein Ausgleich gemäß der rabbinischen Lehre, dass Gott die Welt nur nach dem Prinzip der Gerechtigkeit erschaffen wollte.
„Doch, als Er sah, dass Gerechtigkeit alleine nicht bestehen würde, schuf Er die Barmherzigkeit“ (Der Raschi-Kommentar zu den Fünf Büchern Moses, ins Deutsche übersetzt von Julius Dessauer, Budapest 1887, S. 12).
Susmans Ideal ist nicht die Theokratie (Gottesherrschaft), sondern eine Gesellschaft, in der sich jedes Mitglied seiner Verantwortung bewusst ist, sodass Theokratie zur Demokratie wird. Die Verantwortung des Einzelnen ist maßgebend für die Gemeinschaft. Als sich in Deutschland im Nationalsozialismus die „Mächte“ gegen das „Gesetz“ richteten und Chaos ausbrach, klaffte ein tiefer Abgrund auf, so Klapheck.
Susman vertritt auch den rabbinischen Unterschied zwischen persönlicher Schuld, die den Einzelnen betrifft, und Sünde, als vom Einzelnen begangene Fehl-Tat, die sich auf die Gemeinschaft bzw. Gesellschaft auswirkt, und „die es zu den Verbrechen des NS-Regimes hatte kommen lassen, ohne dass alle ihre Mitglieder diese begangen hätten“ (S. 247). Damit zählen auch die Juden, die Jahrhunderte lang an der deutschen Kultur mitgewirkt hatten, zu den „schuldlos Schuldigen“, und ihnen obliegt es, Teschuwa (tätige Reue) zu üben. Dabei geht es nicht um die Entsühnung der NS-Verbrecher. Susman hat hier die ganze Menschheit vor Augen, die ohne jüdisches Zutun im Chaos versinken würde.
Im Chaos geht aber auch die Mensch-Gott-Beziehung zugrunde. Die Wiederherstellung dieser Beziehung (tikkun ha-olam) ist Aufgabe des ganzen jüdischen Volkes. Von einem guten Freund Susmans, dem Aphoristiker Elazar Benyoëtz, stammt das Zitat:
„Denk, / wären wir Juden / alle verbrannt worden, / es wäre mit uns / auch die älteste Erinnerung / an Gott ausgelöscht“ (Elazar Benyoëtz, Zeit ist Aufgabe: Worte Sahaduthas, 2014, S. 59).
Im Gegensatz zur christlichen Sühne eines Einzelnen für die Menschheit spricht Susman von der kollektiven Sühne im Judentum.
„Ein weiteres, in ,Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes‘ hervorgehobenes Wort ist das Ringen [...]. Es klingt wiederum der hebräische Name ‚Israel‘ an, auf Deutsch ‚Kämpfen, Ringen mit Gott‘“ (S. 355).
Demnach ist das „Hadern mit Gott“ ein zentraler Aspekt der jüdischen Gott-Mensch-Beziehung.
Wie Martin Buber in dem Begriff ‚Zion‘ ein ¸Zion der Seelen‘ verstand, bezieht auch Susman dieses Wort nicht auf einen jüdischen Staat. Nur im Exil könne das jüdische Volk seine Aufgabe an der Menschheit erfüllen, dass diese nicht in Chaos falle und nicht den gegen das Gesetz strebenden Mächten ausgeliefert werde. Ein geistiges Zion, ein „portatives Vaterland“ (Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, Bd. IV, München 1995, S. 483). Im Exil vertritt das jüdische Volk die gesamte Menschheit, die seit der Vertreibung aus dem Paradies ebenfalls im Exil lebt.
Der Gründung des jüdischen Staates hielt Susman die Bedingung entgegen:
„Zion bleibt Galuth bis zur Endzeit. Auch Zion ist nicht Ziel, sondern Weg, nicht Antwort, sondern Frage, eine offene Zukunftsfrage an das Volk. Ihre eigentliche Bewährung findet auch in einer ganz und gar säkularisierten Welt statt, die Zionsarbeit nur in der Sphäre des Heils: nur in einer Umbildung, Neuwerdung der Gemeinschaft, einer Darstellung des Menschlichen [...]. Ein Zionismus ohne Änderung der verfallenen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen wäre nicht der echte Zionismus, durch dessen volkhafte Gestalt immer die der Menschheit hindurchscheint“ (S. 350 ff.).
Diese Aufgabe muss die jüdische Gemeinschaft auch im eigenen Land vor den Augen haben, um nicht selbst den gesetzlosen Mächten zu verfallen.
Susman war durchaus religiös, lehnte jedoch, wie übrigens auch Martin Buber, Religion als Institution und den Ritus ab. Susmans Religiosität bezog sich auch auf Atheisten, insofern sie fähig sind, Wandel zu bewirken. In ihrem Werk war sie sich der Dynamik des Judentums vollkommen bewusst. In Israel sah Margarete Susman das auserwählte Volk, dessen Erwählung in der Rettung der Menschheit besteht, eine säkulare, politisch-revolutionäre Messianität.
Seit 1934 lebte Margarete Susman in Zürich. In ihrer Autobiographie „Ich habe viele Leben gelebt“ (1964) bezeichnete sie sich „als eine Deutsche, die dieses neue Deutschland nicht mehr ertragen konnte“ (S. 313). Ihre Zuwendung zur „religiös-sozialen Vereinigung“ unter der Führung des evangelischen Pfarrers und Theologen Leonhard Ragaz brachte ihr die Kritik anderer jüdischen Emigranten ein. Man fragte sich, ob sie Jüdin, Christin oder beides sei. Dieser Meinung war auch ihr getaufter Sohn, Erwin von Bendemann, der eine Biographie seiner Mutter aufgrund ihres Briefwechsels erstellt hatte. Doch Ragaz’ Verhältnis zum Judentum stand im Zeichen des Dialogs. In diesem Sinne führte er Gespräche und Korrespondenzen mit seinen Freunden Martin Buber und Schalom Ben-Chorin. Missionierung stand ihm fern. Susmans Aktivitäten im Umkreis von Ragaz können auch als Ansatz des christlich-jüdischen Dialogs verstanden werden. In ihrem Werk findet man auch christliche Einschübe, wie zum Bespiel das „Mariengleichnis“ zur Emanzipation der Frau (S. 191 f.). Doch diese sind bloß Metaphern. Das Deutsche und das Christliche hafteten an ihr wie in den Worten des großen jüdischen Denkers der italienischen Renaissance Simone Luzzatto (1583–1663): Die in der Welt zerstreuten Juden seien „gleich einem Fluss, der über eine lange Strecke durch das Land fließt, dessen Wasser aber von Eigenheiten der verschiedenen Länder bestimmt wird, durch die er fließt“ (Riccardo Calimani, Die Kaufleute von Venedig – Die Geschichte der Juden in der Löwenrepublik, Düsseldorf 1988, S. 291). So „übernehmen die Juden von anderen Nationen verschiedene Gewohnheiten“.Monika Beck, Aachen
Jahrgang 22 / 2015, Heft 4, S. 296−320.