Ein Blick zwischen die Zeilen der biblischen Wochenabschnitte
Dem Andenken von Rabbiner Michael Goldberger s. A. gewidmet.
Viel zu früh ist der 1962 in Basel geborene Rabbiner Michael Goldberger s. A. am 17. Juli 2012 im Alter von nur fünfzig Jahren mitten aus dem Leben gerissen worden; das Erscheinen seines umfassenden Werkes zu den Wochenabschnitten der Tora, der fünf Bücher Moses, durfte er nicht mehr erleben. Die würdige Trauerfeier auf dem Friedhof der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) ‚Oberer Friesenberg‘ steigt der Autorin beim Abfassen dieser Besprechung vor ihrem geistigen Auge auf und lässt Erinnerungen Revue passieren: Die Abdankungsfeier (Verabschiedung) für den Verstorbenen nahm sich außergewöhnlich aus, hatte doch der 2011 zum zweiten Rabbiner der ICZ gewählte Michael Goldberger zu Lebzeiten verfügt, dass er in Jerusalem begraben werden wolle, und so fuhr denn auch eine stattliche Limousine durchs Friedhofstor vor, und die bewegende Zeremonie der Überführung konnte beginnen.
„Die Thora ist für mich die Chronik der gegenseitigen Suche von Gott und Mensch [...]. Im Mittelpunkt der Thora steht der Mensch“ (S. 12);
so bringt es der Psychologe und langjährige Rektor der Zürcher jüdischen Schule Noam, Michael Goldberger, denn auch in seinem Vorwort auf den Punkt. Die Tora als Wegweiser für den gläubigen jüdischen Menschen, als Herzstück und tragende Säule des Judentums bestimmt den jüdischen Jahreszyklus, der im Herbst beginnt und zugleich endet – mit dem Torafreudenfest Simchat Tora. Jede Woche wird in der Synagoge eine Parascha bzw. eine Sidra, also ein Wochenabschnitt, vorgelesen; doch nicht nur das: Die jeweils mit ihrem hebräischen Namen überschriebenen Wochenabschnitte werden, seit die Tora existiert, immer wieder neu ausgelegt und interpretiert.
„Das Lernen der Thora kann nie und von niemandem abgeschlossen werden“ (S. 552).
Toragelehrte lassen sich in ihren Auslegungen sowohl von den Interpretationen klassischer Exegeten inspirieren, als auch von denjenigen zeitgenössischer Größen. Dieses wöchentliche Lesen und Auslegen der Wochenabschnitte – die Tora hat weder Anfang noch Ende – bedingt ein dynamisches Verständnis vom Judentum als einer Religion, die stets im Fluss, stets im Wandel begriffen ist und mit der Zeit geht. So hat Michael Goldberger in regelmäßiger Folge zwischen 1994 bis 2012 in der Hauptsache für die Schweizer jüdischen Wochenzeitungen Jüdische Rundschau, Israelitisches Wochenblatt und ihrer beider Nachfolger Tachles seine Betrachtungen zur Parascha verfasst, die im vorliegenden Werk in umsichtiger Weise und ganz im Sinne des Verstorbenen vom Reinhardt Verlag und der Tachles-Redaktion zusammengestellt und mit Hilfe des Sohnes Ittaj Goldberger herausgegeben wurden.
Das umfangreiche, weit über 500 Seiten umfassende Konvolut folgt im Aufbau naturgemäß der Abfolge der Wochenabschnitte von Bereschit („Im Anfang“) bis Wesot habracha („Und dies ist der Segen“). Zu Beginn eines jeden Kapitels ist eine kurze inhaltliche Zusammenfassung der betreffenden Parascha vorgeschaltet, zu der Goldberger jeweils gleich mehrere Kommentare verfasst hat. Das fundierte und detaillierte religiöse Wissen, das sich der gebürtige Basler, der auch viele Jahre in Düsseldorf als Rabbiner amtierte, über die Jahrzehnte angeeignet hat, scheint in all seinen Kommentaren auf und speist sich zum einen aus seiner profunden Kenntnis der rabbinischen Quellen, vornehmlich der Talmudim und der Midraschim (früheste Bibelauslegungen), zum anderen aus der mittelalterlichen jüdischen Gelehrsamkeit etwa eines Raschi oder eines Maimonides, ferner aus der mystischen, der chassidischen sowie der zeitgenössischen jüdischen und nichtjüdischen Literatur.
Das Lesen und Auslegen des Wochenabschnittes ist eine zutiefst jüdische Angelegenheit. Hermeneutisch gesehen, ist das Toralesen bzw. -lernen ein „ständiges Gespräch des Lesers mit dem Text der Heiligen Schrift und dessen Verfasser“ (S. 554). Das Ringen um den Toratext steht jede Woche wieder neu an, und mit jeder Interpretation wird ein weiteres Steinchen dem großen, zeitlos aktuellen, doch niemals fertigen Textmosaik hinzugefügt, was für Michael Goldberger einem Fortschreiben der Tora von vor zweitausend Jahren bis heute gleichkommt:
„Die Thora offenbart uns jeweils die Dinge, die wir annehmen. Deswegen lesen wir die in ihr enthaltenen Begebenheiten und Geschichten nicht etwa einmalig [...]. Vielmehr fragen wir uns bei jedem Vers: ‚Was sagt die Thora über mein Leben heute?‘ [...] Der Prozess der Bibelinterpretation ist [...] nicht zu Ende. Jeder, der sich Gedanken etwa über eine biblische Geschichte, einen Vers oder auch nur einen Buchstaben macht, wird betrachtet, als schriebe er an der Thora weiter. Jeder tut dies entsprechend seinem geistigen Wachstum. Wir dürfen und müssen dies tun, wenn unsere spirituelle Entwicklung von der Thora als Ganzes geformt wird. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese Empfindung für Wachstum in der Thora selbst enthalten ist, dass die Thora selbst diese beabsichtigt“ (S. 13).
Diese innige Zuneigung zur Tora und die vollkommene Hingabe an sie auf der „ganz persönliche[n] Suche nach Gott“ (S. 11) lässt auch die Wahl des zunächst geheimnisvoll und für den Außenstehenden möglicherweise sogar unverständlich scheinenden Titels „Schwarzes Feuer auf weissem Feuer“ verstehen: Bereits im 5. Buch Mose (Dtn) 33,2 findet sich die Idee eines Feuerstroms des göttlichen Gesetzes:
„[...] zu seiner Rechten Feuer des Gesetzes ihnen“.
Im Midrasch Asseret hadibrot 1 zu den Zehn Geboten etwa findet sich eine Stelle, in der es heißt:
„Die Tora wurde geschrieben schwarzes auf weißes Feuer.“
Ebenso greift der Sohar, das Hauptwerk der jüdischen Mystik, der Kabbala, dieses Bild wieder auf. Gemeint ist, dass die Buchstaben das schwarze Feuer sind, hingegen die Zwischenräume, gewissermaßen das ‚Zwischen-den-Zeilen‘, das weiße Feuer. Im übertragenen Sinne heißt dies nichts anderes, als dass stets zwischen den Zeilen gelesen, ausgelegt, interpretiert werden soll, damit das ‚schwarze Feuer der Tora‘ immer wieder einen anderen, einen neuen Sinn ergibt; nicht von ungefähr lautet denn auch der Untertitel des Werkes: „Ein Blick zwischen die Zeilen der biblischen Wochenabschnitte.“
Was Goldbergers Sammlung, die gemäss dem – wie Goldberger selbst aus Basel stammenden – israelischen Bibelpädagogen Gabriel Cohn
„eine liebevolle, moderne und äußerst menschliche Interpretation des göttlichen Wortes“ (S. 555)
verkörpert, unter der sehr großen Zahl von Publikationen zu den Wochenabschnitten zu einem ganz besonderen, einem herausragenden ‚Sefer‘ (Buch) macht, ist das gelungene Zusammenspiel von Gelehrsamkeit und Wissen, Inbrunst und Demut, Freiheit und Selbstbewusstsein, Spiritualität und Weisheit – und nicht zuletzt auch Charme und Humor.
Yvonne Domhardt, Zürich / Freiburg i. Br.
Jahrgang 22 / 2015, Heft 4, S. 291−293.