Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen
Wie gut, dass es eine solche „Ausnahme“ gab in den dunkelsten Zeiten des Nationalsozialismus – und wie anregend und auch beschämend ist es, davon zu lesen! Bo Lidegaard, ein dänischer Schriftsteller, Journalist, Diplomat und Politiker beschreibt in seinem Buch die dramatischen Ereignisse, die im Oktober 1943 dazu geführt haben, dass fast alle der etwa 8000 jüdischen Mitbürger in Dänemark der drohenden Deportation nach Theresienstadt entkommen konnten. Nach einer Einführung unter dem Titel „Die Geburt eines Mythos“, einem besonderen „Wort an den deutschen Leser“ und einem Vorwort, worin die damalige politische Lage in Dänemark erläutert wird, konzentriert sich die Darstellung vor allem auf die unmittelbaren Ereignisse der Rettungsaktion zwischen dem 26. September und dem 9. Oktober 1943. Jedes der 14 Kapitel des umfangreichen Buches ist einem dieser Tage in chronologischer Folge gewidmet.
Lidegaard beschreibt die Grundzüge der politischen Lage dabei nur im Hintergrund; im Vordergrund stehen die persönlichen Schicksale dreier Familien, deren bislang unveröffentlichte Notizen dem Verfasser vorlagen und von ihm ausgewertet werden. Dabei handelt es sich vor allem um die Tagebücher von Poul Hannover und seinem damals 13-jährigen Sohn Allan, um die Aufzeichnungen der jüdischen Mutter Kis Marcus und um den Nachlass des Arztes Dr. Adolph Meyer. Auch Fotografien dieser Familien sowie zahlreiche andere zeitgenössische Aufnahmen, Skizzen der Fluchtrouten, Zeitungsausschnitte der damaligen Zeit usw. bereichern den Band.
In der Beurteilung des dänischen ,Heldentums‘ nimmt der Verfasser einen differenzierten Standpunkt ein. Zum einen macht er deutlich, dass das totalitäre Regime der Nazis fast der gesamten dänischen Bevölkerung – quer durch alle Gesellschaftsschichten – zutiefst zuwider war. Und zwar nicht zuerst wegen des ihm zugrundeliegenden Rassismus, sondern wegen der Bedrohung des freiheitlich-demokratischen, bürgerlich-christlichen Wertesystems, zu dem sich die dänische Gesellschaft geschlossen bekannte. Es war diese Einmütigkeit, welche den Widerstand möglich machte, ohne dass man ihn erst ‚organisieren‘ musste. Eine ‚Judenfrage‘ gab es im Bewusstsein der ‚anständigen‘ Dänen einfach nicht; den Juden wurde mit großer Selbstver ständlichkeit geholfen – nicht als Juden, sondern als Dänen und Mitmenschen.
Beeindruckend ist es zu hören, dass fliehende jüdische Mitbürger keine Angst vor ihren Nachbarn hatten. Ohne Scheu klopften sie an fremde Türen auf der Suche nach einem Versteck. Kaum jemand befürchtete verraten zu werden, obwohl Kollaboration gegen die deutsche Besatzungsmacht durchaus unter Strafe stand. Allerdings konnten diese Strafen kaum ernsthaft umgesetzt werden, weil ein System massenhaften zivilen Ungehorsams mächtiger ist als die stärkste Diktatur. Wie anders waren die Verhältnisse in Deutschland im Jahr 1943, wo sich niemand mehr sicher sein konnte, ob seinem engsten Freund noch zu trauen war, und wo das perfide System des Terrors die Menschen erfolgreich eingeschüchtert hatte!
Andererseits setzt sich Lidegaard auch kritisch mit der dänischen Geschichte auseinander, indem er sie mit dem Vorbild Schweden kontrastiert. Die Politik der ‚Kooperation‘, mit der Dänemark einen einmaligen Sonderweg unter allen von den Nazis besetzten Ländern eingeschlagen hatte, erforderte viele Kompromisse, die auch als Feigheit bezeichnet werden könnten. Immer wieder wird deutlich, wie sehr der dänische König Christian X., der diese Politik zu vertreten hatte, unter der Last dieser Verantwortung litt. Lidegaard fasst sein Urteil so zusammen:
„Die Kooperation Dänemarks mit dem ,Dritten Reich‘ war pragmatisch, unheroisch und manchmal schmachvoll, aber doch nicht ohne deutliche Grenzen. Ungeachtet seiner augenscheinlichen Machtlosigkeit gelang es diesem Land, seinen Besatzern entscheidende Konzessionen abzuringen, selbst bei Punkten, die von zentraler ideologischer Bedeutung für die Nationalsozialisten waren. Der wichtigste Quell dieser überraschenden Stärke war die vom König so gepriesene nationale Einheit. [...] Dank ihres Verhaltens, dank dieser Mischung aus Verzögerungstaktik, Kompromissen, Teilkonzessionen und Verweisen auf die demokratische Rechtsstaatlichkeit, auf geltendes Recht und auf die Einstellung der dänischen Öffentlichkeit, gelang es der Regierung in vielen Fällen, der Besatzungsmacht auf einer Verhandlungsebene zu begegnen, die nicht nur von nazistischer Logik, sondern auch vom dänischen Rechts- und Unrechtsbewusstsein bestimmt wurde. Und nirgends wird deutlicher, welcher Balanceakt das war, als beim Thema der dänischen Juden“ (59).
Die Lektüre dieses Buchs macht offenkundig, dass Behauptungen wie „Wir haben nichts gewusst“ oder „Man konnte ja nichts tun“ wenig überzeugend sind. Noch einmal Lidegaard:
„Diese andere Seite der Medaille vom allge meinen Geschehen bei der Shoah ist nicht unbedeutend – auch wenn es hier nur um einige wenige Verfolgte unter der unbeschreiblichen Zahl jüdischer NS-Opfer ging [...]. Das dänische Beispiel beweist, dass die Mobilisierung von Menschlichkeit und die Schutzinstinkte einer Zivilgesellschaft nicht nur theoretische Möglichkeiten sind. Sie sind realisierbar. Das wissen wir, weil es geschehen ist“ (280).
Jutta Koslowski, Gnadenthal
Jahrgang 23 / 2016, Heft 1 S. 59−61